Bekenntnisse eines philanthropischen Antinatalisten
Obschon
der Titel seines Buches dies verheißen mag: Jim Crawford ist kein
Misanthrop. Der Leser hat es mit einem philanthropischen Antinatalisten
zu tun. Einem Freund der Menschen, der dennoch und scheinbar
paradoxerweise dafür plädiert, gar keine Menschen mehr zu zeugen, damit
die Menschheit schnellstmöglich ausstirbt. Der Vorwurf, Crawford wisse
wohl gar nicht, welches Glück es für Eltern mit sich bringt, Kinder zu
haben, prallt an diesem Autor ab. Als liebender und sorgender Vater
zweier Töchter ist er selbst Existenzgründer. Wobei er anders als die
absolute Mehrzahl aller Eltern in der Lage ist, den eigenen Glücksgewinn
zu hinterfragen und nach Glück und Leid im Leben seiner Kinder zu
fragen. Tatsächlich bekennt er sich dazu, einen schweren Fehler begangen
zu haben, als er sich an der Zeugung seiner Kinder beteiligte.
Ausnahmslos alle Eltern wissen nämlich, sagt Crawford, dass alle Kinder
leiden und sterben werden. Wer sich für Nachkommen entscheide,
entscheide de facto in einer höchst wichtigen Angelegenheit für die
Kinder mit, für die es aber, wenn sie einmal da sind, zu spät ist, Nein
zu sagen. Einmal da, müssen sie unausweichlich leiden und sterben. Dies
ist für Crawford der Anlass (er selbst nimmt sich nicht davon aus)
Eltern als Quasi-Kriminelle anzusehen. Schuld daran, dass so viele
Menschen als Eltern zu kriminellen Existenzgründern werden, sei ein
Dickicht aus sozialer Konditionierung, in das der Autor mit der
Stirnlampe desjenigen hineinleuchtet, der sich auf langem Leidensweg aus
basalen Intuitionen und Konventionen herausgedacht hat. Wer nun in
Crawford selbst einen Kriminellen erblickt, da er für das Aussterben der
Menschheit auf dem Wege nataler Enthaltsamkeit plädiert, sieht sich vor
folgendes Problem gestellt: Crawford plädiert nicht dafür, etwas zu
tun, sondern etwas zu Unterlassen: eben die Hervorbringung weiterer
menschlicher Existenzen. Wir tun gut daran, so Crawford, keine neuen
Menschen zu zeugen, weil die Existenz eines jeden von uns dem
vergleichbar sei, was ich den Crawfordschen Apfel nennen möchte. Um
unsere Existenz zu erhellen, zieht Crawford einen Apfel mit einer
kleinen dunklen Stelle herbei und fragt: Ist dieser Apfel schlecht? Die
Meisten würden dies verneinen, die schlechte Stelle wegschneiden und den
Apfel verspeisen. Was aber, wenn die schlechte Stelle größer ist und
sich gar über die Hälfte der Frucht erstreckt? Immer noch scheint ein
halber schmackhafter Apfel annehmbar gut und köstlicher als gar keiner.
Bei alledem, so Crawford, unterstellen wir, dass die schlechten Stellen
nur in einer Apfelhälfte vorkommen. So ist es aber nicht immer. Nehmen
wir an, die schlechten Stellen, die 50% des gesamten Apfels ausmachen,
durchziehen das gesamte Fruchtfleisch. Technisch gesehen wäre damit
immer noch der halbe Apfel essbar. Leider nur ist es in diesem Fall
unmöglich, die unverdorbenen Stellen von den ungenießbaren zu trennen.
Man könne die schadhaften Prozente herunterhandeln wie man wolle, so
Crawford, in letzter Instanz halten wir einen ungenießbaren Apfel in der
Hand. – Ebenso ungenießbar wie die Existenz eines jeden von uns. Mit
seinem Apfelbeispiel bringt Crawford einen überaus wichtigen Aspekt zur
Sprache, der auf weiten Strecken seines Buches anschaulich und in
einfacher Sprache erläutert wird: Selbst ein viele Glücksmomente
aufweisendes Leben sei in letzter Instanz doch ungenießbar, weil
räumlich und zeitlich neben den guten Stellen immer auch die schlechten
in unser Dasein eingeflochten sind und sich als Sorge melden, kaum dass
wir einmal glücklich abschalten konnten. Entsorgung vom Dasein ist nur
denkbar als Entsorgung des Daseins. Crawford hat sich aus dem
beschädigten Leben herausreflektiert. Ein besonders lesenswerter
Abschnitt dieser Bekenntnisse eines Antinatalisten ist der mit „Fragen
und Antworten“ überschriebene Teil gegen Ende des Buches. Hier geht
Crawford metaphysisch mit sich ins Gericht und wirft die Frage auf, ob
er mit seinem Plädoyer für natale Enthaltsamkeit wohl Unrecht haben
könnte. Ist denkbar, so fragt er, dass es über dem Wirken der blinden
Fügungen biologischer Evolution etwas geben könnte, in Anbetracht dessen
sich die Gründung menschlicher Existenzen rechtfertigen ließe? Gott?
Das Tao? Punkt Omega? Selbst wenn eine metaphysische Instanz über oder
neben dem blinden Geschehen der biologischen Evolution Bestand haben
sollte – wer bürgt dafür, dass diese Instanz nicht bösartig ist? Im
Hinblick auf den Gedanken an Fortpflanzung sei jede Un-Tat, jede
Unterlassung, das heißt: jede vereitelte Fortpflanzung ein Gewinn auf
Seiten des philanthropischen Antinatalismus. Bricht eine Gruppe
Schlittschuhläufer ins Eis ein und gelingt es mir aber nur, einen oder
zwei zu retten, so habe ich als Philanthrop doch schon etwas erreicht,
oder nicht?, fragt Crawford seine Leser.
Jim Crawford, Confessions of an antinatalist, Nine-Banded Books 2010, ISBN 978-1616583453, 12 $ [Hinzugefügt am 2. März 2011