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CARNEDIZEE
Philosophie – die brotlose Kunst als fleischlastiges Denken

Der Fleischskandal der Philosophie im Ausgang von Aurelius Augustinus
Nicht bloß die Agrarindustrie hat ihre Fleischskandale, auch die Philosophie: Seit vielen Jahrhunderten zerbrechen sich große Denker den Kopf darüber – sei es im Ohrensessel, sei es bei Tisch –, wie sie es bei aller Liebe zur Wahrheit bewerkstelligen können, auf das noch sehr viel leidenschaftlicher geliebte Fleisch nicht verzichten zu müssen. Insbesondere zwei Probleme stehen dem Weg des Fleisches auf den Teller der Denker im Wege. Da ist zum einen das christliche Gebot „Du sollst nicht töten!“, zum anderen das fast immer überreiche Parallelangebot an nichttierischer Nahrung. Spätestens seit dem Kirchenvater Aurelius Augustinus (geboren im Jahr 354 im heutigen Souk-Ahras in Algerien) versuchen große abendländische Geister sich an nichts Geringerem als einer Carnedizee. – Unter Carnedizee sei also verstanden: die Verteidigung der moralischen Bonität des Fleischverzehrs in Ansehung des mächtigen evangelischen Tötungsverbots einerseits und reichlich vorhandener pflanzlicher Kost auf Erden andererseits.
Hier soll keine ins Detail gehende Tellerschau betrieben werden. Stellvertretend für viele andere sei mit Blick auf einige wenige Philosophen gefragt: wie versuchen sie zu rechtfertigen, dass wider besseres Nachdenken doch immer wieder etwas den Weg auf den eigenen Teller findet, was dort eigentlich nicht hingehört: Fleisch!
Den frühen Versuch einer Carnedizee unternimmt Augustinus in seinem GOTTESSTAAT. Manche, so Augustinus, versuchen, dass Tötungsverbot sehr universal zu sehen und es über den Menschen hinaus auch auf Tiere auszudehnen. Tatsächlich ist ja dem „Du sollst nicht töten!“ nicht anzusehen, dass es eine auf den Menschen beschränkte Gültigkeit haben sollte. Augustinus’ Verteidigungsstrategie ist die eines Aikidomeisters: Er nutzt den Schwung des angreifenden Gegners aus und geht in die Bewegungsrichtung des Angreifers mit, um ihn dort zu Fall zu bringen. Die Bewegungsrichtung des Gegners weist über den Menschen auf die Tiere hinaus. Augustinus erkennt nun, dass der Impetus des Gebots „Du sollst nicht töten!“ noch nicht erschöpft ist, wenn wir bei den Tieren angelangt sind. Erst bei den Pflanzen angekommen, erschöpft sich die Schwungkraft des Tötungsverbots und ist sein Einzugsbereich abgesteckt. Dürfte man nun aber gar nichts Lebendiges töten, so wäre nicht bloß vom Fleisch der Tiere abzusehen, sondern auch von pflanzlicher Ernährung. Denn auch Pflanzen hätten Leben und könnten getötet werden. Beim Gegner, den Augustinus dergestalt zu Fall zu bringen gedenkt, handelt es sich zumal um den die Fleischlosigkeit lebenden Manichäismus – das zu Lebzeiten Augustinus’ mächtigste Konkurrenzunternehmen zur christlichen Großkirche.[1]
Augustinus berücksichtigt sehr wohl den moraltheoretisch wichtigsten Unterschied zwischen Pflanzen und Tieren: Pflanzen sind empfindungslos, Tiere fühlen. Nun mögen Tiere zwar Empfindungen haben, Vernunft haben sie keine, weshalb das Tötungsverbot auf sie keine Anwendung finden könne. Zudem kann sich Augustinus mit Blick auf Tiere auf das biblische Nutzungsgebot berufen, um das generelle Tötungsverbot zu neutralisieren. Auf eine kurze Formel gebracht, ist dies die Carnedizee des Augustinus. Insbesondere sein Pflanzenargument („Darf man keine Tiere töten, warum dann Pflanzen?“) sollte über die Jahrhunderte bis in unsere Gegenwart hinein als ein die Carnedizee tragendes Diktum fortwirken. Damit der Leser sich ein unmittelbareres Bild von Augustinus’ Carnedizee verschaffen kann, biete ich ein längeres Zitat, welches ich jedoch in den Fußnotenteil verbanne.[2]
In seiner Carnedizee schränkt Augustinus das Tötungsverbot auf den Menschen ein. Kein Mensch dürfe einen Menschen töten, weder einen anderen noch sich selbst. Wo nun einmal das generelle Tötungsverbot mit Blick auf die schmerzempfindenden, vernunftlosen Tiere unterspült ist, löst Augustinus allerdings auch gleich das Menschentötungsverbot auf – und zwar zugunsten seiner Doktrin vom gerechten Krieg: „Doch hat Gottes gebietender Wille selbst einige Ausnahmen von jener Anordnung, keinen Menschen zu töten, verfügt. Es versteht sich nämlich, dass wenn Gott selbst töten heißt [...], solch ein Ausnahmefall vorliegt.“[3]

Schopenhauer (1788-1860)
Von Augustinus aus ist es zu Schopenhauer ein weiter Weg. Nicht allein fast anderthalb Jahrtausende trennen beide Denker, sondern auch die Gottlosigkeit Schopenhauers sowie der Umstand, dass er mit Fug und Recht als Mitleidsdenker zu bezeichnen ist. Wenn Schopenhauer die Rechtlosigkeit der Tiere eine der empörendsten Barbareien des Abendlandes nennt, mag man in ihm einen der Ahnväter der Tierschutzbewegung erkennen. Gleichwohl hat auch Schopenhauer sich eine Carnedizee zurechtgelegt, damit neben allerlei Gemüse das Fleisch einen Platz auf seinem Teller hat: In nördlichen Weltgegenden heimische Menschen, so Schopenhauer, könnten ohne den Verzehr von Fleisch gar nicht überleben. Zugutehalten muss man ihm, dass er sich zwecks Minderung tierlichen Leids für den ausgiebigen Gebrauch von Chloroform im Schlachthaus aussprach.[4]

Nietzsche (1844-1900)
Der Geistesheroe Nietzsche, der in Schopenhauer einen seiner Lehrer erkennt, bediente sich einer ganz eigenständigen Carnedizee, wie zugeschnitten auf Dauerdenker wie ihn: „Geistig produktive und gemütlich intensive Naturen müssen Fleisch haben. Die andre Lebensweise bleibe den Bäckern und Bauern, die nichts als Verdauungsmaschinen sind.“[5]

Eduard von Hartmann (1842-1906)
Ganz in Nietzsches Fluchtlinie vor dem Vegetarismus liegen auch die Ausführungen Eduard von Hartmanns, des Autors der „Philosophie des Unbewussten“: „Denn es scheint, dass die Pflanzenkost zahmer, sanfter, geduldiger, indolenter, unfähiger zu hervorragenden körperlichen und geistigen Leistungen [...] macht [...] Mit dem Fleischgenuss seiner kulturtragenden Minderheit hört ein Volk auf, eine aktive Rolle in der Geschichte zu spielen...“[6]
Nun ernährten sich ausgerechnet die durchaus angriffslustigen römischen Gladiatoren zumal von Getreidebrei, vornehmlich Gerste. Und sollte der unerhört belesene Eduard von Hartmann nicht gewusst haben, dass etwa Plutarch oder Leonardo da Vinci Vegetarier waren?

Gegenwart
In seinem Text „Was sind wir dafür schuldig, dass wir von anderm Leben leben?[7]“ wirft der 1936 geborene Naturphilosoph Klaus Meyer-Abich die Frage auf, „wie wir es mit dem Essen und dem dazugehörigen Töten oder Verletzen halten wollen.“ (A.a.O., S. 228) Meyer-Abich nimmt scharfsinnig einem Argument den Wind aus den Segeln, welches, wenn man es gewähren ließe, den Weg des Fleisches auf den eigenen Teller gefährden könnte. Dieses Argument lautet: Da wir bei Strafe unseres Lebensendes auf den Verzehr anderer Lebewesen nicht verzichten können, so sollten wir uns auf die empfindungslosen Pflanzen beschränken und tierische Kost von der Speisekarte streichen. Hiergegen wüsste Meyer-Abich einzuwenden, es „verbindet sich mit der Verurteilung der Tierquälerei in der Regel keine entsprechende Bewertung der Pflanzenquälerei... Zwar leiden Pflanzen als Pflanzen und Tiere als Tiere... Dass auch Pflanzen leiden können – allerdings wohl nicht in Gestalt von Schmerzen –, steht jedoch außer Frage.“ (A.a.O., S. 234)
Wenngleich sie keine Schmerzen empfinden, laut Meyer-Abich leiden auch die Pflanzen. Und da dem nun einmal so sei, ist der Weg allen Fleisches – sofern es nicht der Massentierhaltung entstammt – auf die Teller auch der Philosophen wieder unverstellt. Wobei ausgeblendet bleibt, dass die meisten Tiere vor dem Schlachter gleich sind, gleich ob sie aus vermeintlich artgerechter oder Massenhaltung kommen.
Meyer-Abich erläutert seine Carnedizee weiter am Beispiel des so zarten Lammfleischs. – Mit dessen Verzehr dann aber doch wieder eine zu tilgende Schuld einhergehe. Was sind wir dem Lamm noch schuldig, nachdem wir es haben töten lassen, fragt Meyer-Abich? Ganz einfach, dass wir es uns schmecken lassen: „Ich denke wir sind ihm gewiss nicht schuldig, dass wir das gute Fleisch nur bekümmert und schlechten Gewissens in uns hineinmuffeln, weil wir schon wieder einmal zur Selbsterhaltung ein Lebewesen umgebracht haben, denn diese Freudlosigkeit wird dem Lamm ganz gewiss nicht gerecht.“ (A.a.O., S. 230) Wenn wir das Lamm in Freude verspeisen, so lebe es nun in uns menschlich weiter. Wie anders die Sicht Leonardo da Vincis, der in Fleischessern „wandelnde Grabstätten“ erblickte. Im Anschluss an da Vinci lebt das verspeiste Lamm nicht weiter, sondern hätte im Menschen höchstens einen passenden Sarg gefunden. Ist die Carnedizee damit gescheitert? Nein, denn der Fleischesser kann auf die Vegetarier zeigen und ihnen vorhalten: „Auch ihr seid wandelnde Gräber und ob Eurer vermeintlichen moralischen Überlegenheit umherstolzierende Särge. Ihr seid wandelnde Gräber, da auch Ihr Lebewesen verspeist: Pflanzen!“
Offenbar hängt eine erfolgreiche Carnedizee zu einem Gutteil daran, dass der Fleischesser alle Schuld empört von sich weisen und auf die Pflanzen zeigen kann, deren Tod ja auch der Vegetarier billigend in Kauf nehme. Folglich steht die Frage im Raum, ob denn Pflanzen tatsächlich lebende Wesen sind, wozu der Autor dieser Zeilen sich in seinen Beiträgen „Die Tötung von Tieren und die Zerstörung von Pflanzen“[8] sowie in „A definition of life“[9] verneinend geäußert hat. Ich behaupte: Wer sich von Pflanzen ernährt und pflanzliche Kost erwirbt, nimmt zwar die Zerstörung von Organismen in Kauf, nicht hingegen die Tötung von Lebewesen.


Literatur:
Augustinus, Aurelius
Vom Gottesstaat, DTV, München 2007
Baranzke, Heike / Gottwald, Franz-Theo / Ingensiep, Hans Werner (Hrsg.)
Leben – Töten – Essen. Anthropologische Dimensionen, Hirzel Verlag, Stuttgart, Leipzig 2000
Deschner, Karlheinz
Kriminalgeschichte des Christentums. 1. Band. Die Frühzeit: Von den Ursprüngen im Alten Testament bis zum Tod des hl. Augustinus (430). 5. Auflage, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2004.
Schopenhauer, Arthur
Preisschrift über die Grundlage der Moral, in: Sämtliche Werke Band 3, Ff/M 1986, S. 629ff


[1] Augustinus bekämpfte mit dem Vegetarismus den Manichäismus und schimpfte ihn „eine gottlose Ketzermeinung“ (für Näheres siehe K. H. Deschner, Kriminalgeschichte des Christentums, Bd. 1, S. 518)
[2] Nachstehend Augustinus’ Gedankengang im Zusammenhang:
In Anbetracht des fünften Gebotes, so Augustinus, „versuchen einige, dies Gebot auch auf wilde und zahme Tiere auszudehnen und sagen, dass auch von ihnen keines getötet werden dürfe. Doch warum dann nicht auch auf Pflanzen und was sonst im Erdboden haftet und aus Wurzeln sich nährt? Denn auch von derart Geschöpfen gilt, dass sie zwar keine Empfindung, wohl aber Leben haben, darum auch sterben und bei Gewaltanwendung getötet werden können. So spricht auch der Apostel von den Samengewächsen: ‚Was du säst, wird nicht lebendig, es sterbe denn’, und im Pslam steht geschrieben: ‚Er tötete ihre Weinstöcke mit Hagel.’ So liegt es uns fern, wenn wir hören ‚Du sollst nicht töten’, anzunehmen, es sei unrecht, einen Busch auszureißen, womit wir dem unsinnigen Irrtum der Manichäer beipflichten würden. Mit solchem Wahn wollen wir nichts zu tun haben. Wenn wir also das Verbot es Tötens darum nicht auf das Pflanzenreich anwenden, weil es da keine Empfindung gibt, desgleichen nicht auf die unvernünftige Tierwelt mit ihren fliegenden, schwimmenden, laufenden und kriechenden Geschöpfen, weil ihnen im Unterschied von uns keine Vernunft verliehen ist, weswegen auch nach der gerechten Anordnung des Schöpfers ihr Leben und Tod unserm Nutzen dienen muss, so bleibt nur übrig, das Gebot ‚Du sollst nicht töten’ ausschließlich auf den Menschen zu beziehen, und zwar sowohl auf den andern als auch auf dich selbst. Denn wer sich selbst tötet, tötet auch einen Menschen.“ (Vom Gottesstaat, Erstes Buch, Kapitel 20-21, S. 38f)
[3] Augustinus, Vom Gottesstaat, Erstes Buch, Kapitel 21, S. 39. Dagegen zeigt Hedwig Dohm in ihrer Schrift DER MISSBRAUCH DES TODES, wie der Krieg alle christlichen Gebote in ihr Gegenteil verkehrt (siehe Dohm, Der Missbrauch des Todes. Senile Impressionen, Berlin-Wilmersdorf: Verlag Die Aktion, 1917, S. 3).
[4] Vgl. Schopenhauers Preisschrift über die Grundlage der Moral, S. 773ff
[5] Brief Nietzsches vom 28.9.1869 an Carl von Gershoff, zit. in: Baranzke/Gottwald/Ingensiep, a.a.O., S. 314
[6] Eduard von Hartmann: Moderne Probleme. Was sollen wir essen? (1866). Zitiert in Baranzke/Gottwald/Ingensiep, a.a.O., S. 194
[7] In: Baranzke/Gottwald/Ingensiep, a.a.O., S. 227-235
[8] http://www.inarchive.com/page/2010-04-11/http://www.vebu.de/alt/kultur/Diskussion/Die_Toetung_von_Tieren_und_die_Zerstoerung_von_Pflanzen__Karim_Akerma__2007.htm
[9] http://www.tabularasa-jena.de/artikel/artikel_2228/

[Hinzugefügt am 12. Februar 2011. Modizifiert am 14.2.2011]

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