LE BERCEAU (Die Wiege) Als Sébastien, der antinatalistische Held des Romans, erfährt, dass sein Vater ihm unerträgliche Migräne vererbt hat, bricht er das àElterntabu: Er hinterfragt die moralische Beschaffenheit seines Vaters, der es im Wissen um die Erblichkeit der Krankheitsdisposition fertigbrachte, Vater zu werden. Wogegen Sébastien sich schon in jungen Jahren zumal in Anbetracht der Welt entscheidet, in die er etwaige Nachkommen hineinzeugen würde. Warum einen Menschen zeugen, wenn man selbst leidet?
Sich in nataler Enthaltsamkeit zu üben, wird zu Sébastiens erklärter Religion. Anhand eines intensiven Gesprächs zwischen Sébastien und Laurence expliziert Annaba diese Privatreligion dialogisch. Sie gebiete nur das Eine: Massaker und andere Missstände nicht fortzusetzen. Wozu auch gehört, verurteilt zu sein, sich das tägliche Brot 40–60 Jahre lang im Schweiße seines Angesichts verdienen zu müssen. Lauras Irrealismusvorwürfe pariert Sébastien mit der Entgegnung: „Ich verbleibe lieber in meinem Wolkenkuckucksheim, da ich nicht darum gebeten zu habe, auf die Erde zu kommen.“ Wenn nun aber jeder so denken und handeln würde wie er, dann gäbe es schon bald keine Menschen mehr, so Laura. Sébastien: „Die Moral von der Geschichte ist, dass es nicht dazu kommt, da die Masse auch künftig ihren Instinkten folgen wird.“ Sébastien jedenfalls trennt sich durch einen radikalen Schnitt von der ihn umgebenden Fortpflanzungsgemeinschaft: Er reist nach England, um sich einer Vasektomie zu unterziehen, die in Frankreich, seinem Heimatland, bis 1999 verboten war.
Bemerkenswert sind einige Kategorisierungen, die Annaba im Roman dialogisch entfaltet. Auf den Vorwurf, er sei misogyn, führt Sébastien aus: „Du hast mich immer noch nicht richtig verstanden. Ich bin nicht misogyn, sondern – schlimmer noch – anthrophob. Ich mag die Menschheit nicht.“ Und auf die Frage, ob er vielleicht sagen wolle, er sei ein Misanthrop, da „anthrophob“ kein gängiges Wort sei: „Nein, der Misanthrop schert sich wenig um die Menschheit. Er mag die ihm begegnenden Menschen nicht. (…) Ich hingegen bin ziemlich gesellig, was mich aber anwidert, ist die Menschheit insgesamt.“ Denn die Menschheit erweise sich als durch sich selbst unbelehrbar. Ihre Religion ist das Wachstum: mehr Kinder und mehr Wirtschaft, die die Lebensgrundlage der vielen Kinder zerstört. Im letzten Drittel des Romans ergänzt Annaba den Antinatalismus und die Anthrophobie im Umfeld einer ländlichen Kommune plausibel durch ein Plädoyer für Entschleunigung und negatives Wirtschaftswachstum. [Hinzugefügt am 7. Januar 2014]
Dass die Menschheit doch rebelliere gegen die sich Fortpflanzenden!... Stattdessen aber pflegt die Menschheit das Verbrechen der Fortzeugung!... Sie reden von Liebe Und es ist der Fortpflanzungstrieb Que l’humanité se rebelle contre les procréateurs !... Mais bien au contraire, l’humanité perpétue le crime de procréation !... Ils parlent d’amour et c’est l’instinct de reproduction (Philippe Annaba, CRIS, SANS TITRE, SANS MUSIQUE, SANS RIEN..., Editions Pierre Jean Oswald, Paris 1973, S. 16)
Nur wer sich fortpflanzt, ist verantwortlich
für sich selbst
für die Gesellschaft,
für die Menschheit und ihre Verbrechen… Seuls
les procréateurs sont responsables
d’eux-mêmes
de la société,
de l’humanité et de ses crimes…
(Philippe Annaba, CRIS, SANS TITRE, SANS MUSIQUE, SANS RIEN..., Editions Pierre Jean Oswald, Paris 1973, S. 12)
Ruhig schlafen die Kühe, friedlich käuen sie wieder, denn sie ahnen nicht, dass ihr Kalb morgen schon beim Schlachter ist… in der Arena… vielleicht ist es ihnen auch einfach egal… wie vielleicht auch Ihnen das Schicksal Ihrer Kinder gleichgültig ist?... Les vaches dorment bien, elles ruminent paisiblement, parce qu’elles ignorent que Demain… leur veau partira pour la boucherie… pour l’arène… peut-être d’ailleurs qu’elles s’en foutent… Vous foutez-vous aussi du sort de votre progéniture ?... (Philippe Annaba, CRIS, SANS TITRE, SANS MUSIQUE, SANS RIEN..., Editions Pierre Jean Oswald, Paris 1973, S. 14) [Hinzugefügt am 20.10.13]
Wir haben keine Revolution mehr zu vollbringen, Oder zu erwarten. Nur das Eine ist noch dringlich, Dieses Eine noch zu beachten: Von der Fortpflanzung abzusehen. Um Frieden mit der Geschichte zu schließen, Die mit unserem letzten Tag verschwände. Mit der Gegenwart Frieden zu schließen, die endlich uns gehörte. Um mit der Zukunft einen Frieden zu schließen, Die uns nicht mehr beträfe.
Il n'y a plus de révolution à faire, Ni à attendre. Il n'y a plus qu'une seule urgence, Une seule vigilence: S'abstenir d'engendrer. Pour être en paix avec l'Histoire Qui disparaît alors, avec notre dernier jour. Pour être en paix avec le present Qui enfin nous appertient. Pour être en paix avec l'avenir Qui ne nous concerne plus. (Philippe Annaba, Bienheureux les stériles, Toulon 2002, S. 109) [Hinzugefügt am 13. Oktober 2013]
Depuis quarante
ans vous vous gaussez de mes imprécations antiprocréationnistes. (Philippe Annaba, Proférations gnostiques, Toulon 2008, S. 34)
Seit vierzig Jahren schon verlacht ihr meine antinatalistischen Verwünschungen.
Devant tous les Dieux du Ciel, devant la Grande Intelligence de l’Univers, devant le Vide et le Néant, je profère que je refuse absolumment toute réincarnation, en quoi que ce soit, en qui que ce soit. (Philippe Annaba, Proférations gnostiques, Toulon 2008, S. 44)
Vor allen Göttern des Himmels, Vor der Großen Weisheit des Weltalls, Vor der Leere und dem Nichts, verkünde ich meine absolute Absage an jegliche Wiedergeburt als was auch immer, als wer auch immer.