Die unwahrscheinliche Zukunft der Menschheit
J. Leslie über das Seinkönnen und Seinsollen der Menschheit
Von Karim Akerma
John Leslie
The End of the World
The Science and Ethics of Human Extinction
(First published by Routledge, London, New York 1996, 2. Aufl. ebd. 1998)
”If the fertility rate recently found in West Germany spread to the rest of the world, there would be no humans in existence by
about the year 2400.” (74) Der Titel des Buches, in dem dieser Satz steht, läßt eher eine Arbeit über kosmologische Modelle zum
Ende des Weltalls denn zum Überlebenkönnen und Seinsollen der Menschheit vermuten. Zum Seinsollen der Menschheit, einem völlig
unterrepräsentierten Thema von allergrößter Bedeutung, arbeitet und publiziert Leslie seit Beginn der 70er Jahre, getragen von
folgenden Überzeugungen: ”...the need for good things to exist transcends the matter of whether there actually exist such
things... After doomsday the unanswered need for a good world would surely be something real and important... A blank universe
could be an important tragedy, though there would be no one for whom it was important.” (Ethically required existence, American
Philosophical Quarterly, July 1972 (215-224), 220f)
Der Untertitel des Buches, ”The Science and Ethics of Human Extinction”, entspricht dem Inhalt des Buches sehr viel besser und
läßt uns seinen Aufbau verstehen. Der Untertitel besagt, daß nicht die Welt im ganzen, sondern, räumlich und zeitlich
betrachtet, nur ein kleiner Ausschnitt ihrer in Frage steht: die Welt der Menschen. Wir haben es mit folgenden Grundproblemen zu
tun. Die Wissenschaft der Auslöschung der Menschheit bezieht sich sowohl auf wissenschaftliche Vorhersagen und Abwendungen eines
Endes der Menschheit als auch auf ein mögliches Ende durch Wissenschaft. Die Ethik der Auslöschung der Menschheit erörtert
Gründe für den Erhalt und gegen eine Aufhebung der Menschheit. Die Wissenschaft hat es mit dem Seinkönnen, die Ethik mit dem
Seinsollen der Menschheit zu tun.
Über etwa die Hälfte des Buches berichtet Leslie von Gefahren unterschiedlichster Art, die die Menschheit in ihrem
Überlebenkönnen bedrohen. Bekannteren Gefahren, die den Lesern etwa des Buches So laßt uns denn ein Apfelbäumchen pflanzen
Hoimar von Ditfurths bereits bekannt sind, stellt er eine ganze Reihe unbekannterer Gefahren an die Seite, deren Präsentation
von einigem kosmologischen Sachverstand zeugt. Neben den Gefahren von atomarer, biologischer und chemischer Kriegsführung,
Umweltverschmutzung und neuartigen Krankheiten bespricht Leslie unter anderem die von Kometen und Asteroiden ausgehende
Bedrohung sowie Supernovae, ungewöhnliche Sonneneruptionen, die Explosion oder das Verschmelzen schwarzer Löcher, Genetic
Engineering, die Ersetzung von Menschen durch Computer oder die Herbeiführung eines neuen Urknalls beim Experimentieren mit
Elementarteilchen als Bedrohungen für das Überleben der Menschheit. Bei alledem ist Leslie Recht zu geben, wenn er sagt: ”I
don’t buy the argument that talking of the risk of doom spreads despondency, thus increasing the danger.” (134)
Das eigentliche Verdienst des Buches liegt darin, nicht nur vom Überlebenkönnen zu handeln, sondern sich der allgemein
vernachlässigten Frage zuzuwenden, warum überhaupt Menschen dasein sollen. Von den sieben Kapiteln des Buches handelt allerdings
allein Kapitel 4, ”Why Prolong Human History?” ausdrücklich von der Frage menschheitlichen Seinsollens.
Zu den Hauptanliegen des Buches gehört es zu demonstrieren, daß wir die beredt geschilderten und in entlegenen Bereichen
aufgestöberten Gefahren für menschheitliches Überlebenkönnen ernster nehmen sollten als wir es wahrscheinlich tun. Das Argument,
dessen Leslie sich bedient, um dies nahezulegen, ist das von dem Mathematiker Brandon Carter gefundene und von Leslie
weiterentwickelte Doomsday Argument, als dessen ”world’s expert” er von P. Davies in den seinem Buch vorangestellten Stimmen
anderer Philosophen gewürdigt wird. Gemäß dem Doomsday Argument ist es wahrscheinlicher, daß wir am Ende als am Beginn der
menschlichen Geschichte stehen. Es besagt ferner, daß Theorien, die beinhalten, daß wir eine lange Zukunft vor uns haben, die
Position von uns, die wir heute leben, zu einer unwahrscheinlichen machen, weshalb wir solchen Theorien gegenüber skeptisch sein
sollten.
Philosophisch interessant ist das Buch insbesondere deshalb, weil Leslie zu demonstrieren sucht, daß eine Pflicht zum Erhalt der
Menschheit besteht. Und er sucht das Bestehen dieser Pflicht gegen philosophische Richtungen zu verteidigen, die gegenüber einem
Fortbestand der Menschheit gleichgültig seien. In diesem Zusammenhang gelangt Leslie dazu, in manchen philosophischen Lehren
einen Gefahrenherd zu erkennen. Viele Philosophen, so Leslie, sind dem Überleben der Menschheit gegenüber gleichgültig, indem
sie keine Pflicht zur Hervorbringung von Menschen anerkennen. Nun hören die Leute nicht auf die Philosophen, wenn sie es aber
täten, so würde dies eine weitere Bedrohung für das Überleben der Menschheit konstituieren.
Im folgenden haben wir erstens (1.) das Überlebenkönnen der Menschheit zu besprechen, welches nach Leslie unwahrscheinlich wird,
wenn wir das Doomsday Argument in Betracht ziehen. Sodann (2.) sind die von Leslie für das Seinsollen der Menschheit
eingebrachten Gründe zu erörtern.
1. Das Überlebenkönnen der Menschheit
Die vielen Risiken für das Überleben der Menschheit, die Leslie anzuführen weiß, sind bereits für sich genommen beunruhigend.
Was er nun darzulegen sucht ist dies, daß wir in unserer Risikoeinschätzung immer noch zu kurz greifen und den ganzen Ernst der
Lage verkennen werden, solange wir die realen Bedrohungen nicht im Lichte des Doomsday Arguments betrachten.
Das von dem Kosmologen Brandon Carter aufgestellte Doomsday Argument bezeichnet nicht etwa eine weitere Bedrohung für das
Überlebenkönnen der Menschheit. Es verkündet auch nicht, daß die Menschheit binnen kurzem aussterben wird. ”At most it suggests
that the risk of its soon dying out is probably greater than we suspected...” (194) Durch Bekanntschaft mit diesem
neganthropischen Argument werden wir dazu aufgefordert, die Risiken eher höher einzuschätzen als wir es bislang taten.
Leslie wird nicht müde, das Doomsday Argument das ganze Buch hindurch in stets neuen Formulierungen und Abwandlungen
vorzustellen. Er hat recht daran getan, da die Logik des Arguments, das was mit ihm besagt und nicht besagt sein soll, nicht
einfach zu durchschauen ist.
Das Doomsday Argument steht mit folgender Frage in engem Zusammenhang: ”If the human race had been fated to last for many years
and colonize the galaxy, could you at all have expected to find yourself as early as around AD 2000?” (17) Leslie geht davon
aus, daß wir in Zukunft nicht bloß andere Planeten unseres Sonnensystems, sondern weite Bereiche der Milchstraße besiedeln
werden. Freilich wären in diesem Fall Menschenzahlen zu erwarten, denen gegenüber sich die 60 Milliarden der bisherigen
Geschichte wie ein allererster Anfang ausnähmen.
Das Doomsday Argument basiert auf einer Asymmetrie zwischen (a.) der extrem frühen Menschheit und (b.) der extrem späten
Menschheit. Die Asymmetrie ist dadurch konstituiert, daß es aufgrund der Bevölkerungsexplosion wahrscheinlicher ist, jetzt zu
leben als zu Beginn der menschlichen Geschichte. Dies in Anbetracht des Umstands, daß zu Beginn der menschlichen Geschichte nur
0,00...1 % (die Zahl der einzufügenden Nullen hängt davon ab, wie nah an den Anfang man zurückgeht) aller Menschen, die
überhaupt je gelebt haben, lebten, während heute etwa 10 % aller Menschen, die überhaupt je gelebt haben, gleichzeitig leben.
Das Doomsday Argument beruht ferner auf der Überlegung, daß ”Anfang” und ”Ende” der menschlichen Geschichte als relative
Begriffe gehandhabt werden können. Seine Botschaft ist, daß es in jedem Fall wahrscheinlicher ist, am Ende als am Anfang der
menschlichen Geschichte zu leben. Zwar wäre es möglich, einen absoluten Anfang menschlicher Geschichte zu vereinbaren, etwa
indem man sagte, sie habe vor 100000 Jahren begonnen. Mit Blick auf die Zahl der Menschen jedoch, die je gelebt haben, stand die
Menschheit selbst noch vor 10000 Jahren an ihrem Anfang. Selbst zu Beginn unserer Zeitrechnung lebten erst 250 Millionen
Menschen, die mehr als 1500 Jahre benötigten, bis sie sich nach Ende des Dreißigjährigen Krieges verdoppelt hatten.
Und bei dieser Betrachtungsweise ist nicht auszuschließen, daß auch wir erst an einem relativen Anfang der menschlichen
Geschichte stehen. Dies wäre der Fall, falls es noch Jahrhunderttausende menschlicher Geschichte geben wird. Nehmen an, bislang
haben 60 Milliarden Menschen überhaupt gelebt, so wären momentan 10 % aller Menschen, die je gelebt haben, am Leben. Sollte die
Menschheit jedoch Jahrhunderttausende fortbestehen, so hätten um das Jahr 2000 nur noch 0,00....1 % aller Menschen überhaupt
gelebt. Unsere Gegenwart wäre ein Anfang der Menschheitsgeschichte, nicht zwar, was die Zeit angeht, seit der es Menschen gibt,
wohl aber was die Zahl aller Menschen angeht, die je gelebt haben.
Unterstellen wir, die ersten Menschen seien vor 100000 Jahren aufgetaucht und die letzten werden in 100000 Jahren gelebt haben.
Rein zeitlich gesehen befänden wir uns dann genau in der Mitte eines Zahlenstrahls. Ziehen wir jedoch die Bevölkerungsexplosion
in Betracht und halten wir es nicht für unmöglich oder gar mit Leslie für wahrscheinlich, daß Menschen in der Zukunft Planeten
in der gesamten Milchstraße besiedeln werden, dann stehen wir erst am Anfang einer Bevölkerungskurve. Je nach Reproduktionsrate
dieser galaktischen Menschheit würden wir, die wir heute leben, nur 0,00...1 % aller Menschen überhaupt ausgemacht haben. In
diesem Sinne stünden wir erst am Anfang der Menschheitsgeschichte.
Das Doomsday Argument behauptet also nicht, es sei wahrscheinlicher unter den letzten 10% als unter den ersten 10% aller
Menschen zu leben. Es behauptet, es sei wahrscheinlicher, jetzt zu leben - simultan mit 10% aller Menschen, die jemals gelebt
haben - als zu irgend einem anderen Zeitpunkt der bisherigen Geschichte.
Würde die menschliche Geschichte nur entsprechend lange weitergehen, so würden wir, auf die Gesamtheit aller Menschen, die je
gelebt haben gesehen, an einem ganz unwahrscheinlichen relativen Anfang der Geschichte stehen; unwahrscheinlich, weil wir selbst
uns dort nicht vermuten würden. Deshalb ist es für Leslie wahrscheinlicher, daß wir heute am Ende der menschlichen Geschichte
stehen als an ihrem Anfang. Daß und in welcher Weise dies zutreffend ist, will ich am Modell eines Telefonbuchs demonstrieren.
Wandeln wir zunächst das gewöhnliche Telefonbuch ein wenig ab, so daß es zu einem Menschheitsbuch wird. Es umfasse hundert Bände
à 1000 Seiten Es sei nicht alphabetisch angeordnet, sondern seine Seiten haben einen Zeitindex. Auf S. 1 stehen die Namen aller
Menschen, die im Jahr 1 der Menschheitsgeschichte (bzw. Vorgeschichte) gelebt haben, auf S. 2 die Menschen des Jahres 2 usw.;
wobei wir wiederum vereinbaren wollen, daß es seit rund 100000 Jahren Menschen gibt. Auf welchen Seiten dieses Lebensbuches
würden wir eine gesuchte Person namens Icho Tolot am ehesten vermuten, wenn wir wissen, daß der Name ein Unikum ist? Fraglos auf
jenen Seiten, die unserer Gegenwart entsprechen, etwa auf Seite 100000, da gegenwärtig mehr Menschen als je zuvor gleichzeitig
leben. Auf den Seiten, die für die Jahre um das Jahr 2000 stehen, wären jeweils etwa 6 Milliarden Menschen eingetragen. Hätten
um das Jahr 1320 schon einmal sechs Milliarden Menschen simultan gelebt, so dürften wir den Eintrag des gesuchten Namens mit
gleichem Recht um die Seiten für das Jahr 1320 und 2000 herum vermuten.
Jetzt können wir unsere eigene Daseins-Wahrscheinlichkeit ins Auge fassen. Diesmal wissen wir nicht, wieviele Seiten das
Menschheitsbuch umfaßt. Wir wissen allerdings, daß die Menschheit bis zu ihrem Ende kontinuierlich wächst. Wenn wir einmal davon
absehen, daß wir faktisch jetzt leben: auf welcher Seite des Lebensbuches würden wir unseren Namen am ehesten vermuten? Am
Anfang, in der Mitte oder am Ende des Buches - auf der letzten Seite? Wir würden uns selbst am ehesten auf der letzten Seite des
Buches zu vermuten haben, auf jener Seite, die für das Jahr steht, in dem mehr Menschen als je zuvor gleichzeitig gelebt haben
und nach deren Durchlesen das gewaltige aber endliche Buch der Menschheit zugeschlagen wird. Und das heißt: am Ende der
Geschichte.
Die Botschaft des Doomsday Arguments lautet: Es ist wahrscheinlicher, daß wir am Ende der Geschichte uns befinden als an ihrem
Anfang; wir selbst haben uns ja eben eher an ihrem Ende vermutet. Das Doomsday Argument ist für Leslie eine Handhabe, uns in
unserem Vertrauen in eine lange Zukunft der Menschheit zu erschüttern. Falls ”the human race were to survive for another
thousand centuries, then the late twentieth century would have been a period of human history occupied by (proportionally)
hardly any humans at all: perhaps far fewer than 0,001 per cent of all the humans who would ever have been born. This ought to
decrease our confidence that humankind will have a long future.” (135)
Das Doomsday Argument fußt darauf, daß unsere Position im Buche der Menschheit hinsichtlich der bisherigen Geschichte eine
wahrscheinliche ist, mit Bezug auf optimistische Szenarios kommender Geschichte hingegen dahin tendiert, zu einer
unwahrscheinlichen zu werden. Je weiter wir uns die Menschheit nach Zeit und Zahl in die Zukunft fortgesetzt denken, desto
unwahrscheinlicher wird unsere Position. Diese Unwahrscheinlichkeit ist nach Leslie erstens ein Grund, die Zukunft der
Menschheit in Ansehung menschheitsbedrohender Gefahren für fragiler anzusehen als wir es bislang taten und zweitens ein Grund,
Theorien zu mißtrauen, die uns eine ausgedehnte Zukunft zusprechen.
Mit Blick auf alle Menschen der Zukunft sind wir umso früher, je mehr Menschen hervorgebracht sein werden. Unsere Position in
der Geschichte der Menschheit wird umso unwahrscheinlicher, je mehr Menschen gelebt haben werden. Dies führt zu folgender
Uberlegung, die paradox scheinen mag, die aber den Kern des Doomsday Arguments ausmacht: Gerade die Erwartung oder die Aussicht,
daß die Menschheit die immensen Gefahren der kommenden Jahrhunderte umschiffen wird und daß dann unvergleichlich mehr Menschen
als heute existieren oder existiert haben werden, ist in der Logik des Doomsday Arguments ein Grund für die Berechtigung der
Befürchtung, daß die Menschheit diese Jahrhunderte nicht überstehen wird. Das Doomsday Argument fordert uns auf, solchen
Theorien mit einigem Mißtrauen zu begegnen, denen zufolge unsere Position im Buche der Menschheit eine unwahrscheinliche wird.
”The doomsday argument aims to show that we ought to feel some reluctance to accept any theory which made us very exceptionally
early among all humans who would ever have been born. The sheer fact that such a theory made us very exceptionally early would
at least strengthen any reasons we had for rejecting it.” (3) Aus diesem Grunde gilt auch, ”that the Carter-Leslie reasoning
could be understood as strengthening either of two competing hypotheses in this area: the first, that the human race will end
shortly, and the second, that galactic colonization would never be feasible, no matter how long the race lasted.” (240) Das
Doomsday Argument stärkt die Hypothese, daß es in absehbarer Zeit keine Menschen mehr gibt, weil die gegenteilige Annahme uns zu
außerordentlich frühen und somit unwahrscheinlichen Menschen macht. Zu noch unwahrscheinlicheren Menschen macht uns die Annahme
einer Besiedlung der Galaxis durch Menschen, weshalb dieser Annahme, so argumentiert Leslie einerseits, mit einem gehörigen Maß
an Skepsis zu begegnen ist.
Was seine Einschätzung einer Besiedlung des Weltalls angeht, ist Leslie nun aber in merkwürdiger Weise unentschieden. Zum einen
weiß er: ”With the best presently imaginable technology it could take some four million years to colonize our entire galaxy,
while with modern rocket technology three hundred million years would be required. Yet in under 1,300 years a human population
continuing to grow at the current rate, roughly 2 per cent a year, would need to be distributed across one hundred billion
Earthlike planets.” (72)
Andererseits meint Leslie hinsichtlich der Erstreckung des Doomsday Arguments ”it is probably only the near future that we need
consider, because humans can be expected to spread throughout the solar system fairly soon. They could thereafter survive in
great numbers regardless of whether all Earth’s inhabitants were destroyed.” (145) Hier ist es zwar nicht eine Besiedlung der
Milchstraße, die ansteht; dennoch ist die Vorstellung einer dauerhaften Besiedlung von Planeten unseres Sonnensystems gerade von
den Erfahrungen bisheriger Raumfahrt her als naiv einzuschätzen. Dessen ungeachtet zeigt sich Leslie an anderer Stelle wieder
überzeugt davon, daß wir in wenigen Jahrhunderten beginnen werden, die Milchstraße zu besiedeln (siehe 183).
Einen nicht unerheblichen Teil seines Buches verwendet Leslie darauf, Widerlegungsversuche des Doomsday Arguments zu entkräften.
”At least a dozen times, I too dreamed up what seemed a crushing refutation of it. Be suspicious of such refutations, no matter
how proud you may be of them!” (19) Ein Widerlegungsversuch geht davon aus, daß wir die Galaxis nicht besiedeln werden. Woraus
auf den ersten Blick zu folgen scheint, daß die Position der jetzt Lebenden im Buche der Menschheit keine unwahrscheinliche
wird. Hiergegen hat Leslie leichtes Spiel. Wenn wir einmal davon ausgehen, daß es die Menschheit im Jahr 2050 bei einer stabilen
Einwohnerzahl von zehn Milliarden noch gibt, so Leslie, bliebe das Doomsday Argument unangetastet: ”For remember, the human race
would only have to last for about two centuries beyond the year 2050, at a population size of ten billion, for it to be true
that roughly half the race had lived at times later than you and me. And if the race continued onwards at the same size, then
people as early as you and me would be in a very tiny minority after a few thousand years.” (254) Setzt man dieses Szenario
voraus, so wird das Doomsday Argument in der Tat nicht getroffen. Hingegen hat Leslie hier seine Annahme aufgegeben, für das
Überleben der Menschheit seien allein die nächsten Jahrhunderte entscheidend, weil die Menschheit dann die Erde dauerhaft
verlassen haben werde und ihr Überleben folglich nicht mehr am Schicksal der Menschen auf der Erde hinge.
Das Doomsday Argument sei nur dann triftig, wenn Risiken vorliegen, durch die anzunehmenderweise die gesamte Menschheit in ihrer
Fortexistenz bedroht ist: ”Misery and death for billions would be immensely tragic, but might be followed by slow recovery and
then a glittering future for a human race which had learned its lesson. What is crucial to the doomsday argument - and, I’d say,
the issue most important from an ethical viewpoint - is whether anything could put an end to all humans.” (137) Aus dieser
Stelle geht klar hervor, daß Leslie’s Anliegen in erster Linie die Menschheit ist. Leslie philosophiert für das Überleben der
Menschheit. Er ist in erster Linie ein Menschheitsphilosoph, erst in zweiter Linie ein Philosoph der Menschen. Gleich wie viele
Mitglieder die Menschheit umfassen mag, das Ende der Menschheit (aller Menschen), ereigne sich dieses leidlos oder nicht, wiegt
für Leslie ethisch schwerer als das Ende einer noch so großen Zahl von Menschen. Dies bedeutet, daß für ihn selbst das leidlose
Ende einer nur Hunderttausende umfassenden Menschheit ein ungleich tragischeres Ereignis darstellte als etwa das qualvolle Ende
der Hälfte aller jetzt Lebenden in einem Nuklearkrieg.
Es sei nur dann wahrscheinlich, daß wir am Ende der menschlichen Geschichte leben, wenn es Faktoren gibt, die jeglichem
menschlichen Leben ein Ende zu bereiten vermögen. Genau das hält Leslie jedoch nur für etwa die kommenden fünf Jahrhunderte für
wahrscheinlich (was wiederum nur ein anderer Ausdruck dafür ist, daß er ein endgültiges Verlassen der Erde für sehr
wahrscheinlich hält), wobei er zuversichtlich ist, daß zumindest ein paar Menschen auch nach dem kommenden halben Jahrtausend
dasein werden: ”... it seems that supernova explosions, solar flares, mergers of black holes or of neutron stars, large-scale
volcanism or impacts by asteroids or comets are very unlikely to kill all of us in the near future. ... diseases appear unlikely
to kill absolutely everyone. ... Ozone layer destruction, greenhouse warming, the pollution crisis... all threaten to cause
immense misery. Yet they too might well appear unlikely to wipe out the entire human race... The same can probably be said of
global nuclear warfare. ... All the same, the above-discussed dangers can be impressive enough to destroy complacency. And I
think the chief risks have yet to be mentioned. Genetic engineering seems to me one of them... I nevertheless feel inclined to
say that the probability of the human race avoiding extinction for the next five centuries is encouragingly high, perhaps as
high as 70 per cent.” (145f) In der Tat ist die Gefahr einer Vernichtung aller Menschen durch Kernwaffen geringer geworden,
wobei die Gefahr der Tötung und Verletzung einer großen Zahl von Menschen durch Massenvernichtungswaffen hingegen gewachsen ist
(siehe: Richard K. Betts, ”The New Threat of Mass Destruction”, Foreign Affairs Jan./Feb. 1998, S. 26-42) Aber, wie gesagt, die
Vernichtung oder das Elend einer noch so großen Zahl an Menschen ist nicht Leslie’s erste Sorge, denn ”...a few surviving
thousands would probably be a sufficient base from which new billions could grow.” (145f)
Auf das Ganze seiner Ausführungen gesehen geht Leslie von einer Besiedlung extrasolarer Planeten aus. Somit kann er sagen, daß
die Entscheidung über Doomsday in den kommenden Jahrhunderten gefällt werden wird. Ist der Zeitpunkt erreicht, da das Schicksal
der Menschheit sich von dem der Menschen auf Erden emanzipiert hat, ist dem Doomsday Argument die Grundlage entzogen. Denn
Leslie meint: ”what is crucial to the doomsday argument... is whether anything could put an end to all humans.” Gleichzeitig
aber beansprucht Leslie das Doomsday Argument über diesen Punkt hinaus, der es außer kraft setzt. Statt es in der Annahme einer
Überwindung der Erdständigkeit abdanken zu lassen, entnimmt Leslie dem Argument und beansprucht es in der Weise, daß wir laut
Doomsday Argument im Falle einer Überwindung der Erdständigkeit in besagtem Sinne äußerst unwahrscheinlich werden, weshalb der
Annahme des Eintretens dieser Überwindung mit Skepsis zu begegnen sei. Es scheint, daß das Argument, zumindest wie Leslie es
hier handhabt, überlastet ist.
Nochmals: In ein paar Jahrhunderten würden wir die Erde verlassen haben, womit das Doomsday Argument nicht länger relevant wäre,
da das Ende aller Menschen auf der Erde diesenfalls nicht mit Ende der Menschheit zusammenfiele. - Auch wenn ein Omnizid nicht
gänzlich unmöglich würde, so müßten doch sehr exotische Bedingungen für sein Zustandekommen erfüllt sein (es mag immer noch
Gefahren geben, durch die selbst eine über Lichtjahre gestreute Menschheit vernichtet werden könnte, aber Leslie selbst
vernachlässigt diese, wie zum Beispiel die versehentliche Schaffung eines neuen Urknalls in Rahmen hochenergetischer
Laborexperimente, siehe S. 128-131) Gleichzeitig aber, trotz Außerkraftsetzung des Arguments in der Annahme einer zukünftigen
Überwindung unserer Erdständigkeit, wird es von Leslie im Rahmen derselben Annahme beansprucht, nämlich für die Demonstration
dessen, daß sich unsere Unwahrscheinlichkeit erhöht.
Das Doomsday Argument soll einerseits nur solange triftig und in kraft sein, wie anzunehmenderweise alle Menschen auf der Erde
leben, da allein unter diesem Umstand anzunehmen ist, daß Doomsday eintreten kann, also die gesamte Menschheit ausstirbt.
Andererseits aber läßt Leslie das Argument gleichzeitig von unserer Unwahrscheinlichkeit zehren, die genau dann eklatant wird,
wenn wir eine Emanzipation von der Erde anvisieren. ”Now, the prospect of having vastly many descendants, if the human race gets
through the next few centuries safely, is precisely what the doomsday argument gives as a ground... for increased fear that the
race won’t get through those centuries safely.” (263) Der Grund hierfür war, daß die Annahme zahlreicher Menschen in der Zukunft
unsere Position unwahrscheinlich macht. Und diese sich aus der Annahme ergebende Unwahrscheinlichkeit ist eben nach Leslie ein
Grund, der Annahme selbst gegenüber skeptisch zu sein.
Recht besehen ist das Doomsday Argument also schwerlich ein eindeutig identifizierbares Argument. Leslie hätte gut daran getan,
seine Darlegungen unter stärkerer Berücksichtigung folgender Einsicht zu formulieren: ”‘Doomsday argument’ can be a misleading
label since all that is involved is a magnification of risk-estimates.” (238)
Zum erörterten Problem gesellt sich ein weiteres. Hatte Leslie uns nicht aufgefordert, Annahmen gegenüber skeptisch zu sein, die
uns zu exzeptionell frühen und also unwahrscheinlichen Menschen machen? Warum vertritt er dann eine solche Theorie? Er sagte ja:
”The sheer fact that such a theory made us very exceptionally early would at least strenghten any reasons we had for rejecting
it.” Anschließend fragt er selbst: ”Just how much would it strenghten them?” (3) Alles was Leslie tut, um dieser Frage Herr zu
werden, besteht in einer Versicherung, daß es konkurrierende Gründe geben mag, Gründe, die eine Ausbreitung ins Weltall
wahrscheinlich scheinen lassen. ”The answer would depend on just how strong the competing reasons were - the reasons for
thinking that the human race would survive for many more centuries, perhaps colonizing the whole of its galaxy.” (3) Eine solche
Auskunft ist kaum zufriedenstellend, da sie das von Leslie selbst aufgestellte und im Gesamtrahmen seiner Ausführungen
mächtigere Gebot außer acht läßt, solchen Theorien gegenüber skeptisch zu sein. Überdies ist es uns nach Leslie’s letzter
Ausführung unbenommen, dieses oder jenes für wahrscheinlich zu halten.
Aber sehen wir ein wenig genauer hin, welche Gründe laut Leslie für eine bevorstehende Kolonisierung des Alls sprechen Er redet
von kilometerlangen zylinderförmigen Raumstationen, in denen Zehntausende leben könnten. Unter Aufbietung einiger Trillionen
Dollar könnten die Atmosphären von Venus und Mars atembar gemacht werden; bläht sich dereinst die Sonne zum Roten Riesen auf, so
könnten Menschen auf dem Pluto leben (siehe 136). Unzweifelhaft ist Leslie unter jene zu zählen, die wie J. D. Barrow, F. J.
Tipler, P. Davies oder F. Dyson in der Wissenschaft Erlösung suchen und zu finden vermeinen, nämlich das ewige Dasein von
Intelligenz im Weltall. Mary Midgley hat mit Science as Salvation (London-New York 1992) eine bedeutende Kritik dieser
inzwischen verbreiteten Geisteshaltung vorgelegt, von der schon Passagen von Ernst Blochs Das Prinzip Hoffnung diktiert worden
sind.
Leslie beläßt es nun nicht bei Annahmen darüber, ob die Menschheit sich jemals wird von der Erde emanzipieren können, er ist
überdies der Auffassung, daß eine Pflicht bestehen könnte, dies zu tun. ”If the human race manages to survive for the next
couple of centuries, it will quite probably be in the position to start spreading right across its galaxy. It could have a very
strong duty to do so.” (183) Dies führt uns zu Leslie’s Ausführungen zum Seinsollen der Menschheit.
2. Das Seinsollen der Menschheit
Zu den menschheitsbedrohenden Gefahren, die Leslie aufzählt, gehören einige philosophische Anschauungen. Er nennt unter anderem
den Schopenhauerschen Pessimismus, den Präskriptivismus R. M. Hare’s und den negativen Utilitarismus. Eine Gefahr sieht er auch
darin, daß einige ”philosophers attach ethical weight only to people who are already alive or whose births are more or less
inevitable.” (12) Nun hören die Leute nicht auf Philosophen; wenn sie es aber täten, so Leslie, ”then views of this kind could
be very dangerous.” (171)
Ist Kapitel 4, Why Prolong Human History?, einerseits in philosophischer Hinsicht am bedeutendsten, so treten andererseits
gerade hier zwei Mängel des Buches unmittelbar hervor. Erstens ist der Ethik menschheitlichen Seinsollens unverhältnismäßig
wenig Raum gewidmet gegenüber der Wissenschaft und Technik des Überlebenkönnens sowie der versuchten Abwehr unterschiedlichster
Einwände gegen das Doomsday Argument. Zweitens beschränkt sich Leslie wesentlich auf den Utilitarismus als diejenige
Moraltheorie, die ein Seinsollen der Menschheit zu begründen vermöchte. Hierfür kann nicht allein die leider immer noch
bestehende Kluft der Sprachlosigkeit zwischen angloamerikanischem und kontinentalem Philosophieren verantwortlich gemacht
werden. Denn es bleibt nicht nur etwa Hans Jonas’ Ontologie menschheitlichen Seinsollens unbeachtet; trotz kritischer
Berücksichtigung läßt Leslie auch seines nordamerikanischen Kollegen R. M. Hare Versuch zur Begründung einer
Hervorbringungspflicht unerörtert.
Leslie’s Kritik an Hare ist insoweit berechtigt, als letzterer die ontologische Dimension des Ethischen außer acht läßt, die
Leslie gewahrt wissen will. In seiner Kritik am Präskriptivismus Hare’s läßt Leslie jedoch vollkommen unberücksichtigt, daß Hare
auf dem Boden seiner Moraltheorie sehr wohl ein Gebot zur Hervorbringung von Menschen und damit Perpetuierung der Menschheit
formuliert hat. Als universeller Präskriptivist will sich Hare zugleich auch als Kantischer Utilitarist verstanden wissen.
Moralische Urteile besitzen ihm zufolge einerseits die Eigenschaft, Vorschriften darzustellen (Präskriptivität) und andererseits
die Eigenschaft der Universalisierbarkeit. Da die meisten von uns, so Hare, den Wert ihres eigenen Lebens hoch einschätzen, sind
wir auf Grund der Universalisierbarkeit moralischer Urteile dazu verpflichtet, das Leben eines anderen Menschen ähnlich hoch
einzuschätzen. Auf Grund der Präskripivität moralischer Urteile sind wir deshalb nach Hare verpflichtet, menschliches Leben
hervorzubringen. Und dies gilt nach Hare nicht allein für ungeborenes, sondern selbst für ungezeugtes menschliches Leben, also
für ”bloß mögliche” Personen (siehe z.B. Hare, Abtreibung und die Goldene Regel, in: A. Leist (Hg.): Um Leben und Tod, 3. Aufl.
Ff/M 1992, 132-154).
Daß wir potentielle Personen hervorzubringen haben ist auch die Position Leslie’s. Er als auch Hare kennen eine Pflicht zur
Hervorbringung möglichen menschlichen Lebens und damit zur Perpetuierung der Menschheit. Statt in Hare einen - wenn auch anders
begründenden - Bundesgenossen im philosophischen Kampf für das Seinsollen der Menschheit zu erkennen, bemängelt Leslie an Hare’s
Moraltheorie, ”that calling something good doesn’t describe any reality concerning it: instead it... prescribes that everybody,
oneself included, shall favour it...” (159)
Demgegenüber hält Leslie im Sinne klassischer Ethik und, spezifischer, einer Ontologie menschheitlichen Seinsollens dafür, ”that
ethical needs, ethical requirements, are ‘elements of reality’...” (155). Statt nun aber, was nach dem eben Zitierten zu
erwarten stünde, wie N. Hartmann (Ethik, 1926), H. Jonas (Das Prinzip Verantwortung, 1979) oder U. Steinvorth (Klassische und
moderne Ethik, 1988) als Ontologe menschheitlichen Seinsollens zu argumentieren, beläßt Leslie es als Ontologe bei bloßen
Versicherungen wie: ”Gut” ”means having an existence which is ethically required” (162), oder: ”The central idea is that things
are marked out for existence in a non-trivial way.” (167) Und: ”Goodness and badness aren’t just matters of the praiseworthiness
or blameworthiness of moral agents! They are robust enough to survive in the absence of people whose duty it is to do this or
that.” (168f) Diese Feststellungen lassen einige Ausführungen zur ontologischen Fundierung der Ethik erwarten. Stattdessen
verweist Leslie diesbezüglich auf andere seiner Veröffentlichungen und beläßt es im Buch bei wenigen und kaum erhellenden
Bemerkungen. Er erklärt: ”Rough ways of labelling my own position would be ‘utilitarian’...” (179)
Welche Spielart des Utilitarismus vertritt Leslie? Er verwirft den Durchschnitts-Nutzen Utilitarismus, da es diesem nur um den
Nutzen aller existierenden Menschen geht, Leslie aber die Rechte aller möglichen Menschen vertreten will. Zudem läßt der
Durchschnitts-Nutzen Utilitarismus das Aussterben der Menschheit zu, ”if the existence of later generations would necessitate
any lowering of the average...” (175) Entschieden wendet Leslie sich auch gegen den negativen Utilitarismus, da wir diesem
zufolge so handeln sollen, daß wir Leid nach Möglichkeit mindern und verhindern. Aber, wie Leslie weiß, ”placing great emphasis
on minimizing misfortune can lead straight to this: that we ought to work towards the extinction of humankind.” (173) Leslie
vertritt einen anhäufenden oder Nutzen summierenden Utilitarismus. Für ihn gilt: ”... the more happy people the better.” (183).
Obwohl er einen Nutzen-Summen-Utilitarismus vertritt, ist Leslie umsichtig genug, dem negativen Utilitarismus ein gewisses Recht
einzuräumen: ”...the notion that we ought to favour the extinction of humankind because human lives are inevitably of negative
value sometimes can look rather attractive. Anyone who saw absolutely no force in it would be callous.” (174) Fraglich ist, ob
der Ausdruck, ein menschliches Leben sei von negativem (oder positivem) Wert irgend sinnvoll sein kann. Wer wollte - und wenn
ja: nach welcher Methode - Leid und Glück errechnen oder verrechnen? Nicht weil menschliche Leben von negativem Wert sein mögen,
sollte sich uns die Frage aufdrängen, ob die Menschheit nicht besser auf dem Wege nataler Enthaltsamkeit verebben sollte,
sondern deshalb, weil eine Perpetuierung der Menschheit unweigerlich mit Leid einhergehen dürfte, welches weder durch Glück noch
durch Menschenmassen kompensierbar ist. Ein anderer Geschichtsverlauf freilich ist in Anbetracht der sich über Jahrtausende
erstreckenden Überlieferung nicht zu erwarten. Grund für eine ganz andere Extrapolation menschlicher Geschichte in die Zukunft
bestünde allein, wenn wir die entsprechende Kunde hätten von einer extraterrestrischen Zivilisation, die, nunmehr befriedet, zu
einem früheren Zeitpunkt der unsrigen vergleichbar gewesen sein müßte.
Was den negativen Utilitarismus betrifft, sollte einmal deutlich gemacht werden, daß J. St. Mill hier eine Position der
Geschichtsoffenheit bezog, ”da das Nützlichkeitsprinzip ja nicht nur das Streben nach Glück, sondern auch die Verhinderung und
Milderung von Unglück beinhaltet; und in dem Falle, daß das erstere Ziel utopisch wäre, entstünde dem letzteren nur ein um so
größerer Wirkungskreis und eine um so größere Dringlichkeit.” (Mill, Der Utilitarismus, Stuttgart 1994, 22) Den utopischen
Charakter des Glücksstrebens einmal vorausgesetzt, entstehe dem - späterhin von R.N. Smart (Negative Utilitarianism, Mind 67
(1958)) so genannten - negativen Utilitarismus ein umso größerer Wirkungskreis, ”zumindest so lange, als die Menschheit es
vorzieht weiterzuleben, statt ihre Zuflucht in einem kollektiven Selbstmord zu suchen, wie ihn Novalis für bestimmte Situationen
empfahl.” (Mill, ebd.)
Läßt sich irgend ein Zeitpunkt angeben, von dem an das Streben nach mehr Glück als utopisch anzusehen ist, die Idee seiner
massenhaften Herbeiführbarkeit ausgedient hat und die Utopie gleichsam u-topisch geworden ist? Sind es nicht spätestens die im
20. Jahrhundert unternommenen und mißglückten Zumutungen und Versuche, gegenwärtiges Leid gegen zukünftige Harmonie
einzutauschen, das Elend hinter sich zu lassen und nach und nach Glück für Alle in einer sozialistischen Gesellschaft zu
etablieren, durch die in schrecklicher Weise evident geworden ist, daß es fortan wesentlich um die Verhinderung und Milderung
von Unglück gehen sollte?
Wer in Ansehung überlieferten und zu erwartenden menschlichen Leids als Philosoph daran festhält, daß die Weiterführung der
Menschheit geboten ist, ist angehalten, eine Anthropodizee zu leisten, das ist: Eine philosophische Verteidigung der Empfehlung
der Weitergabe menschlichen Lebens und somit der Perpetuierung der leiderfüllten Geschichte im Wissen darum, daß alternativ eine
relativ leidlose Aufhebung der Menschheit auf dem Wege nataler Enthaltsamkeit idealethisch (das heißt: unter Ausblendung
motivationaler und emotionaler Schranken) ins Auge gefaßt und empfohlen werden kann.
Am philosophischen Projekt einer Anthropodizee wird nicht erst auf den Anreiz hin gearbeitet den der negative Utilitarismus
bietet, sondern - im Abendland - spätestens, seitdem die gnostische Weltauffassung die Nichtweitergabe menschlichen Lebens
empfahl. In seinem Versuch, eine Anthropodizee zu leisten, verfährt Leslie so, daß er uns einerseits von der Kompensierbarkeit
von Leid durch Glück zu überzeugen sucht und andererseits möglichen Menschen das Recht auf Hervorbringung zuschreiben möchte. In
seiner Kompensationstheorie geht er zunächst davon aus, daß es ethisch erforderlich sein könne, glückliche Menschen
hervorzubringen, um einen Zustand, der andernfalls ein schlechter Zustand wäre, in einen guten Zustand zu verwandeln.
Leslie wählt das folgende - absichtlich unrealistische - Beispiel: Irgendwann in der Zukunft existieren 77 Milliarden glückliche
Menschen. Irgendwo gebe es 90 Trillionen Inseln. Mittels Zauberei sei es möglich, jede der Inseln mit 100000 glücklichen
Menschen zu bevölkern. Auf jeder der Inseln befinde sich eine fensterlose Hütte: Nichts kann getan werden, um das Leid der
Menschen in ihr zu mindern. Nichts von dem, was in der Hütte geschieht kann nach außen dringen und umgekehrt. Leslie zufolge ist
eine solche Insel mit nur jeweils einer fensterlosen Hütte des Leidens ”remarkably good” (vgl. 181). Als Grund für diese
Feststellung führt er an, daß im wirklichen Leben weitaus mehr Unglückliche auf 100000 Glückliche kommen als in diesem
phantastischen Gedankenexperiment.
Was aber, wenn uns ein Elender auf 100000 Glückliche bereits zuviel ist, wenn wir in Abrede stellen, daß Leid durch Glück
kompensierbar sein kann und wir leugnen, daß Leslie’s Insel als ”remarkably good” zu bezeichnen wäre? ”If you denied this, then
you’d have fairly strong grounds for thinking it right to annihilate the human race in some quick and painless fashion. In the
foreseeable future, the human race seems sure to contain at least one miserable person per hundred thousand.” (181)
Leslie spricht vom ”act of replacing an ethically disastrous situation by an undisastrous one” (182) Um dies zu erläutern, haben
wir die Inselwelt mit Leslie ein wenig zu modifizieren. Es wäre tragisch, so Leslie, falls das Weltall 90 Trillionen Menschen
enthielte, jeder in einer fensterlosen Hütte auf einer Insel lebend. Bestünde nicht eine moralische Notwendigkeit, so fragt
Leslie jetzt, ”to replace so tragic a situation by the non-tragic one in which there were a hundred thousand happy people on
each island in addition to its miserable person? (181) Warum aber sollte menschliches Leid kompensiert worden sein, ”disastrous”
in ”undisastrous” konvertiert, dadurch, daß auf jeden Leidenden 100000 Glückliche kommen? Wäre in etwa das Leid der Gemarterten
und Geschlachteten von Ruanda durch die Entdeckung kompensiert, daß auf jeden Verstümmelten anderswo im Kosmos mindestens 100000
glückliche empfindende Wesen kommen? Wer dies ableugnet, hat, wie Leslie bemerkenswerter Weise gesteht, starke Gründe, eine
leidlose Aufhebung der Menschheit ihrer Perpetuierung vorzuziehen. Dies scheint um so mehr der Fall, wenn wir uns von den
Phantasiewelten mit ihren fensterlosen Hütten abwenden und die wirkliche Welt ins Auge fassen.
Im Klappentext von ”The End of the World” bemerkt J.J.C. Smart über dieses Buch, ”it could well be the most important book of
the year.” Im selben Jahr erschien D. J. Goldhagens ”Hitler’s Willing Executioneers. Ordinary Germans and the Holocaust” (New
York, 1996). Auf S. 386 steht: ”The universe of death and torment into which the Germans hurled the Jews finds its closest
approximation in the portrayals of hell contained in religious teachings and in the art of Dante or Hieronymus Bosch. ‘By
comparison’ to what he was witnessing at Auschwitz, wrote one of the German physicians in the camp, Johann Paul Kremer, ‘Dante’s
Inferno seems to me to be almost a comedy.’” Goldhagen beansprucht für sich als Verdienst, für die Phänomenologie des Tötens und
Folterns die Weise klinischer Beschreibungen aufgegeben zu haben, wie sie für die bisherige Literatur zum Holocaust typisch sei.
Er fragt: ”What exactly did they do when they were killing?” (Goldhagen, 7) Wer sich wie Leslie an einer Kompensation von Leid
durch Glück versucht, sollte sich die Frage vorgelegt haben: ”Was für Leid ist es, dessen Kompensation durch Glück ich in
Betracht ziehen muß?" Es ist jedenfalls nicht allein das Elend phantastisch-eindimensionaler Hüttenwesen.
Der zweite Strang von Leslie’s versuchter Anthropodizee besteht darin, daß er ein vorgebliches Recht möglicher Menschen auf
Hervorbringung zu verteidigen sucht. Würde nämlich nur jenen Menschen ethisches Gewicht beigemessen, die real sind, so würde
keine Pflicht bestehen, die menschliche Gattung zu erhalten: Würde die Aufzucht von Kindern als zu mühselig empfunden, so
Leslie, könnte dies demgemäß zum Aussterben der Menschheit führen, ohne daß eine Pflicht verletzt würde (Vgl. 12) Leslie macht
einen horror possibilitatis dafür verantwortlich, daß ”it now tends to be held that the goodness of merely possible happy lives
can’t give rise to real duties...” (176)
Mit einem wiederum phantastischen Gedankenexperiment möchte Leslie veranschaulichen, daß es eine Pflicht zur Hervorbringung
möglicher Menschen gibt: ”Astonishingly many professional philosophers... recognize no moral call to keep the human race in
existence: if waving a hand were enough to guarantee the existence of a trillion happy galaxy-colonizing humans, they would see
no duty to wave.” (184) Wer sind diese ”erstaunlich vielen Philosophen”? Im Grunde nennt Leslie nur drei, denen diese Auffassung
zugeschrieben werden könnte: Schopenhauer, J. Narveson und J. Bennett. Was Leslie hier übersieht, ist der Umstand, daß Narveson
und Bennett es allein auf der Grundlage des Utilitarismus nicht für möglich halten, zur Formulierung einer Pflicht zur
Weitergabe menschlichen Lebens zu gelangen. Sie schließen hingegen andere Gründe nicht aus, denen zufolge ein bewohntes
Universum einem unbewohnten vorzuziehen sein mag. Bennett gibt unumwunden zu, daß er ein Universum mit mehr Leben aus
ästhetischen Gründen einem Universum mit weniger Leben durchaus vorzieht. Aber er hat auch die folgende von Leslie nicht
berücksichtigte Regel aufgestellt: ”Die Frage, ob Handlung H moralisch obligatorisch ist, hängt allein vom Nutzen derjenigen
Menschen ab, die existieren würden falls H nicht durchgeführt wird.” Narveson zufolge können wir dem Utilitarismus nur die
Pflicht entnehmen, das Glück von Menschen zu maximieren, nicht aber ihre Anzahl (siehe Bennett’s und Narveson’s Beiträge in B.
Barry/R.I. Sikora (Hrg.): Obligations to Future Generations, Philadelphia 1978).
Auf die Frage, warum mögliche Personen hervorgebracht werden sollten, weiß Leslie keine überzeugende oder auch nur konsistente
Antwort. Neben seine Bemerkungen zu einer Ontologie menschheitlichen Seinsollens - von der nicht klar geworden ist, wie sie mit
dem Utilitarismus vermittelt werden soll - stellt er nun auch noch den Appell an eine etablierte Sozialmoral. Wie, so fragt er,
sollen wir die Auffassung behandeln, derzufolge es moralisch zulässig ist, die Menschheit aussterben zu lassen, falls
Kinderkriegen als Plage angesehen wird. Seine Antwort: ”The correct reaction, I suggest, is the one which tends to be taken for
granted in the Far East, where it is considered shameful to enjoy one’s own life while feeling absolutely no call to give live
to others.” (178) Hier beruft sich Leslie ganz einfach auf eine zur Sozialmoral geronnene überlieferte Intuition. Er übersieht
an dieser Stelle, daß es die ”Anderen”, denen Leben gegeben oder nicht gegeben, Recht oder Unrecht getan werden könnte, nicht
gibt. Es gibt keine möglichen Personen, denen ein Leben vorenthalten werden könnte.
Leslie’s Umgang mit den Rechten möglicher Menschen auf Hervorbringung zeichnet sich durch zwei Schwächen aus. Er hält nicht
auseinander (a) unsere Verantwortung denen gegenüber, die in Zukunft auf jeden Fall dasein werden und (b) unsere Pflicht,
Menschen hervorzubringen. (a) entspricht zukünftigen Menschen; (b) möglichen Menschen.
Vorausgesetzt, es kommt zu keinem durch Menschen oder Natur verursachten Desaster, so wird es zukünftige Menschen geben, jene,
die in Zukunft dasein werden, gleich wie wir handeln. Zukünftige Menschen (jene Menschen, die aller Voraussicht nach in Zukunft
real sein werden) haben etwa ein Recht darauf, daß wir es unterlassen, ihnen ein gesundes Leben zu verunmöglichen. Einen horror
possibilitatis hingegen vermutet Leslie zu Unrecht. Was oder wo, von welchem ontologischen Status, sollte ein möglicher Mensch
sein? Leslie scheint nicht zu durchschauen, daß, was möglich ist, ontologisch gesehen auch wirklich sein muß und daß das
Unmögliche unwirklich bleibt, ontologisch gesehen nicht real ist. Im Leslieschen Sinne ”mögliche” Menschen sind ontologisch
unmöglich, weil die Bedingungen für ”ihr” reales Dasein nicht gegeben sind. Es müßte so etwas wie eine gebrochene Seinsweise
geben, Halbreales, wenn möglichen und dabei doch unwirklichen Menschen sinnvollerweise ein Recht auf Hervorbringung sollte
zugeschrieben werden können.
Was Leslie zur Begründung menschheitlichen Seinsollens ausführt, ist nicht zufriedenstellend. Wer seine Kompensationstheorie
menschlichen Leids nicht akzeptiert, der wird, Leslie selbst gelangt für diesen Fall zum entsprechenden Schluß, für eine
möglichst leidlose Aufhebung der Menschheit plädieren. Der naheliegendste Weg scheint mir ein Verebben der Menschheit auf dem
Wege nataler Enthaltsamkeit, für welches die Bevölkerungen Deutschlands sowie anderer europäischer Länder bereits
stillschweigend votieren. Das Beispiel Japans, wo das Bevölkerungswachstum in zehn Jahren auf Null sinken soll, demonstriert für
Asien, daß bei entsprechendem weltweitem Wohlstand in der Tat mit einer Verebbenstendenz der Menschheit zu rechnen wäre. Derweil
erfährt das Seinsollen der Menschheit immer noch viel zu wenig Aufmerksamkeit von seiten der Philosophie. Entsprechend ist
Leslie’s Arbeit als ein Beitrag zu dem zu begrüßen, was sich vielleicht einmal als das eigentliche philosophische Projekt der
Moderne erweisen wird: die Arbeit an einer Anthropodizee.