Die Entschlüsselung der DNA

Mit Fug und Recht darf die DNS (Desoxyribonukleinsäure) das Molekül des 20. Jahrhunderts genannt werden. Für die Entschlüsselung der räumlichen Struktur dieses Makromoleküls erhielten die Briten und F. Crick und J. D. Watson einen Nobelpreis. Schon in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts allerdings sehen wir den Rang der DNS bedroht. In Kontexten, in denen wir die Erwähnung von DNS erwarten würden – man denke an das Human Genome Project –, ist seit geraumer Zeit und in zunehmendem Maße von DNA die Rede. Nicht wenige Zeitgenossen vermuten hinter den Abkürzungen DNS und DNA zwei unterschiedliche chemische Substanzen. – Zwei prominente Mitglieder aus jener Menge, deren andere herausragende Elemente etwa auf RNS, RNA, Messenger-RNS und Transfer-RNA lauten.

            Blicken wir, um Aufklärung über die unterschiedliche Struktur von DNS und DNA zu erhalten, in Watsons Buch „Die Doppel-Helix“; veröffentlicht 1969 im Rowohlt Verlag, ein Jahr nach Erscheinen der englischen Originalausgabe. Wie nicht anderes zu erwarten, finden wir die DNS alle paar Seiten erwähnt. Von DNA hingegen ist das gesamte Buch hindurch keine Rede. Wurde die Substanz „DNA“ also erst später entdeckt? Wenn ja: wann und wo, und von wem? Und was ist die Funktion der Substanz „DNA“?

            Ein einfacher DNA-„Test“ liefert folgende Antwort auf diese Fragen: Im Anfang war die Nukleinsäure. Entdeckt 1869 von dem Basler Physiologen Friedrich Miescher. Niemand in der damaligen deutschsprachigen Welt wäre auf die Idee gekommen, einen Bericht über die Entdeckung von „Nucleic acid“ zu verfassen. Wie ja auch 100 Jahre später der Übersetzerin von Watsons „Die Doppel-Helix“ der Gedanke noch fern lag, anstelle von „DNS“ die im englischen Sprachraum übliche Abkürzung „DNA“ (für Deoxyribonucleic acid) zu gebrauchen. Warum sollte man sich des englischen „Acid“ bedienen, wo doch das deutsche „Säure“ so viel naheliegender und verständlicher ist? Schließlich verlangt auch niemand nach Mineralwasser mit Carbon acid. Und niemand erklärt, er spanne einen Schirm gegen aciden Regen auf. Sehr wohl aber bedarf es eines Schutzschirms der Aufmerksamkeit gegen unvernünftige und folgeträchtige Abkürzungen wie DNA, auf die beispielsweise das Französische und Spanische verzichten. Franzosen und Spanier kürzen Desoxyribonukleinsäure autochthon mit ADN ab.

            Mit zunehmendem Minderwertigkeitskomplex des Deutschen in Forschung und Sprache und Anbiederung an einen anglisierenden Zeitgeist (ironischerweise ein Wort, das im Englischen deutsch bleibt), sieht sich die scheinbar altbackene DNS durch die vermeintlich modernere DNA substituiert. Dabei sollte doch jedem, der sich des Nukleinsäuren-Vokabulars bedient, klar sein, dass Übertragungsfehler beim „Transkribieren“ oder „Übersetzen“ der DNS zu schwerwiegenden Funktionsstörungen führen können. Dies gilt auch für den geistigen Haushalt eines ganzen Sprachraums, sofern vielen Zeitgenossen nicht bewusst ist, dass ihnen aus Angeberei oder alarmierender Unwissenheit auf Seiten von Übersetzern und Journalisten ein A für ein S vorgemacht wird. Der Gebrauch der Abkürzung DNA im Deutschen verdunkelt, statt aufzuklären. Es handelt sich um schlechte journalistische Alchimie und schwarze Übersetzerkunst, die da vorgeben, aus einer chemischen Substanz zwei Substanzen machen zu können. Leerer Hokuspokus der unfeinen englischen Art, der nicht wenigen das Verstehen wichtiger biologischer Zusammenhänge erschwert. Und mehr wäre zum Thema „Entschlüsselung der DNA“ nicht zu sagen. Außer vielleicht: Habe Mut, dich deiner eigenen Sprache zu bedienen!, ist auch ein Wahlspruch der Aufklärung.

(Veröffentlicht in: Deutsche Sprachwelt, Ausgabe 24, Sommer 2006, S. 7)

 

The Decoding of German DNA: Angloholism*

In many languages there is a tendency to replace native words with English substitutes. One might call this “angloholism”. A good case in point is the replacement of the German “Vorbild” (role model) by the expression “Rollenmodell”. This is ridiculous because the word “Rollenmodell” doesn’t convey the meaning of “Vorbild”. In German the word “Vorbild” transports a moral obligation. If somebody is my “Vorbild” I want to be like her or him. However, equally no one could be my “Rollenmodell”.

            “Rollenmodell” is just a ridiculous example of angloholism. There are many other strident examples, some of which are even more ridiculous and can be funny: German marketing pioneers introduced the expression “body bag” to the world of advertisement. They didn’t know that it stood for “a bag for a corpse”. What the marketing experts had in mind was a simple “bag to put on your body”. What these examples have in common is that they are completely harmless. The same doesn’t go for the usage of the English abbreviation DNA that, over the last decades, is about to extinguish its German equivalent: DNS. Should you ever rush through a bunch of German newspapers, you’ll notice at a glance that DNS is an endangered species that needs protection.

            With complete justification DNA is to be called the molecule of the 20th century. In the German speaking world DNA goes for DNS where “A” refers to “acid” while “S” refers to “Säure”. For unraveling the spatial structure of DNS the Britons F. Crick and J. D. Watson were granted a Nobel Prize.

            A German reader who in 1969 bought a German translation of Watson’s book “The Double Helix” wasn’t molested by DNA. Today any reader of any German newspaper will find as much DNA as DNS and is confronted with an ever increasing amount of DNA. This evokes a constellation in which many a German is puzzled. For many take DNA and DNS for two different substances. Too many journalists and scientists are succumbing to the enticements of “worldspeak” that promises reputation – while, in reality, it leads to the average reader’s perplexity. The brains behind the replacement of DNS by DNA might think it fun. – The fallout contravenes the principles of Enlightenment.

  *Coinage by Guido Kohlbecher.