"Fast
ohne Hilfe stürzt das Schwein sich selbst von oben in die Messer. Gut?
Das
Schwein schlachtet sich selbst."
(Bert Brecht, Die heilige Johanna der
Schlachthöfe)
Autos
im Fahrradlicht
Die
Geschichte der Kultur ist eine Geschichte der Umwege. Dies gilt auch für die
Kultur der Fahrrad-Stellplätze. Wahrscheinlich wäre keine Stadtverwaltung je
auf den Gedanken gekommen, so viele Abstell-Plätze für Fahrräder
aufzustellen, wie sie in Gestalt von Metallbügeln zum Schutz der Bäume de
facto existieren. Wäre mit dem Vorgang des Einparkens von Autos nicht die Möglichkeit
gegeben, die Rinde der Baume empfindlich zu verletzen - die Radfahrer entbehrten
vieler sicherer Schließplätze.
Autoliebhaber
könnten demnach über ihr Liebstes verbreiten, dass selbst bei den
Negativfolgen der Fahrerei noch etwas Positives abfällt: Stellplatze für Fahrräder.
Von Metallbügeln umringt, werden Bäume davor bewahrt, dass ihnen das heilige
Siegel der Stoßstange aufgedruckt wird.
Diesem
Prozess, dass etwas aus der Dimension des Heiligen entlassen wird, um
sodann zweckentfremdet profane Dienste zu leisten, begegnen wir nicht nur im
Zusammenhang des Zur-Ruhe-Kommens der Autoheiligkeit, sondern auch bei Schrift,
Münzgeld und Räderuhr. Dabei, dass große Kulturgüter (und ein solches Gut
ist der Fahrradabstellplatz) oftmals nicht direkt gewollt werden, sondern
irgendwie gelingen, scheint es sich also um eine allgemeine Tendenz zu handeln.
Ein Blick auf die Herkunft von Schrift, Münzgeld und Räderuhr bestätigt dies.
Im Anschluss daran wird nach der Herkunft der Fließbandproduktion von Autos zu
fragen sein - wodurch das Auto endgültig entheiligt werden dürfte.
Nicht
in der Verzweiflung gedächtnismäßig überlasteter sumerischer Funktionäre
liegen die Anfänge der Schrift, sondern in der Kommunikation von Menschen und
Gottheiten: Zeugnisse des siebten vorchristlichen Jahrtausends aus einer
alteuropäischen Hochkultur um das heutige Belgrad zeigen, dass es sich bei der
alteuropäischen um eine religiös motivierte Sakralschrift gehandelt hat. Anfänglich
dürfte es sich bei der Schrift um ein von Priestern eifersüchtig gehütetes
Geheimnis gehandelt haben: erst später wurde sie in das alltägliche Leben
entlassen.
Analog
geschah die Erfindung des Münzgeldes im griechischen Ionien (um 600 v. Chr.)
nicht zwecks Erleichterung des Warenverkehrs. Sondern die Münze wurde eingeführt
als Stellvertreter von Opfern, die vordem noch im Original dargebracht worden
waren. Im Zusammenhang des Opfergeschehens der Tempel war die Münze das
Eigentum eines Gottes. Freilich eroberte sie, aus dem religiösen Zusammenhang
entlassen, bald die Herzen der Menschen und wurde zum allgemeinen
gesellschaftlichen Bindemittel.
Zeit
ist wie Geld: Im Spätmittelalter, wahrscheinlich zwischen 1270 und 1300, wurde
in Europa die Räderuhr erfunden. Früheren Uhrtypen gegenüber zeichnet sich
die Räderuhr dadurch aus, dass das Räderwerk mit den Uhrzeigern von einem
Gewicht angetrieben wird, wobei die durch das Gewicht ausgelöste Bewegung durch
eine mechanische Hemmung getaktet wird. Resultat dieser gehemmten Bewegung der
Uhrengewichte ist die Gliederung der Zeit in gleichartige Abschnitte: Das Fließen
von Minuten und Sekunden.
Die
Räderuhr - und damit die moderne Zeitmessung schlechthin - ist aller
Wahrscheinlichkeit nach in einem Mönchskloster erfunden worden. Peinliche
Einteilung der Zeit, zum Lobe Gottes, war zuerst ein Moment religiöser
Beflissenheit gewesen. In den Klöstern gehegt und gepflegt, wurde die Zeit
schließlich als mündige Räderuhr in das Wirtschaftsleben der anhebenden
Neuzeit entlassen. Wer also an der gehetzten Zeit der Neuzeit leidet und sich
nach der Beschaulichkeil klösterlichen Lebens zurücksehnt, findet dort gerade
die Geburtsstätte seines Leidens.
Jetzt
möchte ich nach der Herkunft der Massenware "Auto" fragen. Als
Massenartikel setzt es das voraus, was mit der Eroberung der Welt durch die Räderuhr
gegeben war: gleichmäßiges Fließen. Im Falle des Automobils geht es um das
Fließ-Band. Die Organisation der Massenproduktion auch - und gerade! - des
Autos, hat ihren Urtypus in den Schlachtereien. Das Fließband wurde von den
Schlachthäusern bis zur Autoindustrie entwickelt, weshalb zu konstatieren ist:
Die
industrielle Fließbandherstellung des Autos verdankt sich der Produktionsweise
fortgeschrittener Schlachthöfe, von denen die Mechanisierung und
Neutralisierung des Tötens bekanntlich ihren Ausgang nahm. Anstoß für die
Einführung des Fließbandes war, lange vor Henry Fords (1863 - 1947) Wirken,
die Mechanisierung der Großschlachtereien Cincinattis und Chikagos (um 1870).
Entscheidend war dabei das Hochlegen der Fördergleise vom Fußboden in die
Deckenzone.
Die
an einer endlosen Kette aufgehängten Tierleiber werden auseinandergenommen, während
in der Autofabrik zusammengesetzt wird. Für das Fließbandprinzip ist diese
Differenz gleichgültig.
Laut
S. Giedion (vgl. sein Buch "Die Herrschaft der Mechanisierung") ist es
schwierig, die Entstehungsgeschichte des Fließbandes nachzuvollziehen. Es
fehlen die entsprechenden Dokumente, was den Beginn der Mechanisierung des
Metzgerhandwerkes und damit die Frühzeit des Fließbandes angeht. Warum? Nun,
wahrscheinlich schämte man sich in der Urzeit des Fließbandes noch, als Quelle
des eigenen Reichtums die Schweineschlachtung angeben zu müssen. Ob sich in der
Frühphase der Massenproduktion von Autos die Fabrikherren wohl ebenfalls geschämt
haben?
Zur
Urgeschichte des Massenartikels Auto gehört die Massenschlachterei: Von dieser
Urschuld, derentwegen mancher Reicher Cincinattis sich geschämt haben mag, wird
das Auto sich vermutlich nie befreien können. Längst schon ist ja nicht mehr
nur das arme Schwein Objekt der Schlachtung, sondern der am Schwein erarbeitete
Produktionsprozess griff auf das Auto über und sein innerstes Wesen ergreift
den Menschen. Der Mensch ist seinerseits Objekt einer Massenschlachtung
geworden. Zahlenmäßig werden jährlich bekanntlich allein in Deutschland ganze
Kleinstädte durch den Autoverkehr ausgerottet.
"Der
Apfel fallt nicht weit vom Stamm", so ein Sprichwort; und so ist es auch
beim Auto. In seiner Massenhaftigkeit verdankt sich das Auto der Verfahrensweise
der Schlachthöfe. In den Schlachthöfen wurde der Versuch unternommen. den Tod
zu neutralisieren. In der durchmechanisierten Autofabrikation kommt der Tod -
abgesehen von Betriebsunfällen - überhaupt nicht mehr vor. Aber losmachen von
der Massenschlachtung kann sich das massenhafte Auto nicht. Es verlagert die Tötung
bloß aus den Werkshallen nach draußen, auf die Straßen der ganzen Welt, wo
statt Schweinen und Rindern Menschen sterben – en masse. Und die Straße
duldet keine Unterbrechung. ebenso wenig wie das Fließband. Noch auf der Straße
scheint dem Auto seine Fließbandhaftigkeit anzuhängen, Das Ideal des
Autoverkehrs ist das Fließen. Doch um gleichzeitig in verschiedene Richtungen
„fließen“ zu können, muss der Verkehr in den Städten unterbrochen,
getaktet werden: mit Hilfe von Ampeln. Dass diese bevorzugte Orte von Unfällen
sind, ergibt sich aus der Unduldsamkeit des Fließbandes gegen Unterbrechungen.
Als Verlängerung des Fließbandes transportiert die Straße den Schlachthof in
die Öffentlichkeit und entheiligt so das menschliche Leben.
Auf
die Fahrbahn geratene Menschen stellen Bedrohungen des Fließgleichgewichtes
dar, die nicht hingenommen werden. Als Bedrohungen werden diese Menschen. wir
lesen darüber täglich in den Zeitungen, sehr wohl "erfasst".
Rentner, Ranzenträger und Radfahrer werden nicht etwa ignoriert, sie werden
erfasst. Von einem PKW erfasst werden. das hört sich an wie: Bei einer Volkszählung
gezählt, von der Polizei gestellt worden sein oder dem Jäger in die Falle
gelaufen.
Aber
der Mensch ist doch kein armes Schwein, das Schwein ist bloßes Objekt der
Massenschlachtung. Der Mensch ist ihr Subjekt und Objekt zugleich - seiner
eigenen Massenschlachtung!
Subjekt
und Objekt des Todes zu sein, woher ist dies bereits bekannt? Zunächst ist da
der Selbstmord: eine einzelne Person ist Subjekt und Objekt ihres eigenen Tötens.
Im Krieg ist der Mensch in einem sehr viel allgemeineren Sinne Subjekt und
Objekt des Tötens. Ebenso ist der Mensch zugleich Subjekt und Objekt im
Hinblick auf Massenverkrüppelung, Massentod und klimatische Katastrophen, die
umso häufiger werden, je schwerer es immer mehr Menschen fällt, sich im Leben
endlich auf eigene Beine zu stellen, statt in einem vierrädrigen Rollstuhl mit
Auspuff und Klimaanlage bis an die nächste rote Ampel zu fahren.