Karim Akerma
Rezension von
David Benatar
BETTER NEVER TO HAVE BEEN
THE HARM OF COMING INTO EXISTENCE
Oxford University Press 2006
ISBN 0-19-929642-1
237 Seiten
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„Er sagte: ‚Die Menschen, die einen neuen Menschen machen, nehmen doch eine ungeheuere Verantwortung
auf sich. Alles unerfüllbar. Hoffnungslos. Das ist ein großes Verbrechen, einen Menschen zu machen, von dem
man weiß, dass er unglücklich sein wird, wenigstens irgendwann einmal unglücklich sein wird. Das Unglück, das
einen Augenblick lang existiert, ist das ganze Unglück. Ein Alleinsein erzeugen, weil man nicht mehr allein sein
will, das ist verbrecherisch.' Er sagte: ‚Der Antrieb der Natur ist verbrecherisch, und sich darauf berufen ist eine
Ausrede, wie alles nur eine Ausrede ist, was Menschen anrühren.'"
[Thomas Bernhard, Frost]
Besser nie gewesen. Vom Schaden des
Existenzbeginns
Täte jedermann und jede Frau das, was der südafrikanische Philosoph David
Benatar als moralisch geboten ansieht, so gäbe es bald niemanden mehr, der sein
Buch „Better never to have been" („Besser nie gewesen") noch lesen könnte. Wie
kann jemand ein Buch schreiben, das alle künftigen Leser auf immer und ewig
verlöre, richteten alle Menschen ihr Tun und Unterlassen an der Moraltheorie des
Autors aus? Nicht geboren zu sein, dies übertrifft alles, formulierte bereits Sophokles
im Ödipus auf Kolonos. Und John Milton lässt seinen Adam in Das verlorene
Paradies Gott die Klage vortragen: „Ich ward / Ward ohne meinen Willen; drum wär's
billig / Ich würde wieder Staub auf meinen Wunsch / Nimm alles hin, was ich empfing;
zu schwer / Sind die Bedingungen, die mir ein Glück / Nach dem ich nicht gestrebt,
verbürgen sollten! / ... Du zeugtest mich? Weshalb? Ich heischt es nicht!" (Milton, 10.
Buch, Vers 746ff) Benatar bestätigt die Dichter, deren Reihe sich hier leicht
fortsetzen ließe, und hebt die Klagen mit den Mitteln der analytischen Philosophie zu
einer erfüllbaren Moraltheorie auf.
Damit niemand auf den Gedanken kommt, in seiner – brillant vorgetragenen –
Argumentation für unser Aussterben ein bloßes und existentiell gleichgültiges
Gedankenexperiment zu erkennen, teilt Benatar schon in der das erste Kapitel
bildenden Einleitung mit: „Es sei betont, dass meine Argumente durch und durch
ernst gemeint sind und ich zu den Ergebnissen stehe." (Benatar, S. 5) Den
Argumenten liegen gewissenhaft durchgeführte Analysen zugrunde. Sie sind im
Duktus der Philantropie gehalten, für jeden Leser ein philosophischer – wenn nicht
gar existentieller – Gewinn und im Ganzen überzeugend.
Der Einleitung stellt Benatar eine jüdische Spruchweisheit voran: „Life is so terrible, it
would have been better not to have been born. Who is so lucky? Not one in a
hundred thousand!" („Das Leben ist so schrecklich, dass es besser gewesen wäre,
nicht geboren worden zu sein. Aber wer hat schon dieses Glück? Nicht einmal einer
unter hunderttausend.") Buchtitel und Spruchweisheit mögen Anlass zu der
Annahme geben, dass – neben anderen Menschenvernichtungen großen Stils des
20. Jahrhunderts – insbesondere der Judäozid den Impetus für Benatars Buch
abgibt. Der 2002 verstorbene US-amerikanische Philosoph R. Nozick reagierte auf
Auschwitz, indem er sagte, durch den Judäozid habe die Menschheit ihren Anspruch
auf Fortbestand verloren, die Deutschen hätten den Ruf der menschlichen
Gemeinschaft in kosmischem Maßstab ruiniert. Das heißt: Weil die internationale
Völkergemeinschaft nicht eingeschritten war, um die Ermordung von Millionen Juden
zu verhindern, sei der Ruf aller Menschen, der Menschheit insgesamt, vor anderen
denkbaren moralfähigen Wesen, dahin.
Karl Jaspers und Hans Jonas verweisen in ihren Werken auf Überlebende deutscher
Konzentrationslager, die äußerten, in eine Welt, in der diese möglich waren, dürfe
man keine Kinder bringen. Keiner von beiden gab in Ansehung von Auschwitz die
Empfehlung aus, auf Nachkommen zu verzichten. Ganz im Gegenteil wurde es
Jonas' vordringliches Anliegen, das unbedingte Seinsollen von Menschen zu
begründen.
Benatar erinnert nicht an die Massenmorde in Kambodscha und Ruanda oder die
Lager Hitlers und Stalins, um zum moralischen Gebot der Nachkommenlosigkeit zu
gelangen. Er gewinnt seinen Anti-Natalismus aus vergleichsweise harmlosen
Quellen. Zum einen aus dem, was man eine ethische Existenz-Asymmetrie nennen
könnte (analysiert im zentralen 2. Kapitel seines Buches), zum anderen aus der von
ihm verteidigten Behauptung, unser aller Leben sei viel schlechter als es uns scheine
(wofür Benatar in Kapitel 3 argumentiert).
Benatars Moraltheorie, die dazu auffordert, auf Nachkommen zu verzichten, mag
derart exotisch scheinen, dass eine – von ihm selbst nicht unternommene –
Einordnung seines Hauptarguments geboten scheint. Insbesondere im
englischsprachigen Raum ist die von Benatar eingehend reflektierte ethische
Existenz-Asymmetrie seit Jahrzehnten Gegenstand philosophischer Debatten. In
prononciertester Form wurde sie vor drei Jahrzehnten von Hermann Vetter formuliert.
Ausführungen des Philosophen Jan Narveson zu Ende denkend, behauptet Vetter,
wir seien sehr wohl verpflichtet, kein Kind zu haben, wenn wir voraussehen können,
dass es ein elendes Dasein haben wird. Wohingegen wir selbst dann nicht
verpflichtet seien, ein Kind zu zeugen, wenn gewiss wäre, dass das Kind ein sehr
glückliches Leben haben würde. Da wir niemals mit Sicherheit ausschließen können,
überlegt Vetter, ob der Betreffende schwer leiden wird, wenn wir einen neuen
Menschen zeugen, sei es in jedem Falle besser, keine Nachkommen zu haben.
Der Kerngehalt der ethischen Existenz-Asymmetrie besteht also zunächst darin, dass
wir verpflichtet sind, keinen Menschen zu zeugen, wenn gewiss ist, dass er leiden
würde, dass wir hingegen nicht einmal dann verpflichtet wären, einen neuen
Menschen zu zeugen, wenn gewiss wäre, dass ihm eine überaus glückliche Existenz
beschieden sein würde.
Andere hierzulande eher unbekannte Philosophen haben diese ethische Existenz-
Asymmetrie in interessanten Varianten ergründet. So analysiert Trudy Govier (1983)
die Asymmetrie, indem sie erforscht, wann wir generationelle Entscheidungen
revidieren: Ist ein Paar entschlossen, kein Kind zu haben, weil es annimmt, dem Kind
würde kein glückliches Dasein beschieden sein, so ist das Paar nicht genötigt, seinen
Entschluss zu revidieren und ein Kind zu zeugen, wenn es plötzlich Mittel oder
Informationen erhält, die mit sich führen, dass das Kind ein glückliches Leben haben
würde. Will ein Paar hingegen ein Kind hervorbringen, weil es davon ausgeht, das
Kind werde zumindest ein annehmbares Leben haben, so ist die Information, das
Kind würde unter keinen Umständen ein annehmbares Leben haben, ein
hinreichender Grund, kein Kind hervorzubringen. Mit anderen Worten: Eine
bevorstehende elende Existenz ist ein Grund, keinen zusätzlichen Menschen
hervorzubringen und den Entschluss, ein Kind zu haben, zu revidieren. Eine
bevorstehende glückliche Existenz hingegen ist kein entsprechend gewichtiger
Grund, einen zusätzlichen Menschen hervorzubringen und den Entschluss zu
revidieren, kein Kind zu haben.
Jeff McMahan (1986) entwickelt ein Argument, welches er das „Beschwerde-
Argument" nennt. Dieses Argument basiert auf dem Umstand, dass jemand
existieren wird, der sich über sein schlechtes Leben beklagen kann, wenn Eltern ein
Kind zeugen. Zeugen diese Eltern hingegen kein Kind, so existiert niemand, der sich
beklagen könnte, nicht hervorgebracht worden zu sein.
Die bislang radikalsten Schlüsse aus der ethischen Existenz-Asymmetrie zog wie
angedeutet Vetter, indem er sagte, wir könnten niemals ausschließen, dass einem
von uns gezeugten Menschen ein elendes Leben beschieden sein wird. Weshalb es
besser sei, keine Kinder zu haben. Benatar geht über Vetter hinaus. Laut Benatar hat
jeder Mensch ein derart schlechtes Leben, dass wir verpflichtet sind, keine
Menschen hervorzubringen. Ihm zufolge neigen wir – von entsprechenden
evolutionär verankerten biologischen und psychischen Mechanismen bewegt – dazu,
die Qualität unseres Daseins maßlos zu überschätzen. Zögen wir jedoch nur den
Umstand in Betracht, dass unser aller Leben von unerfüllten oder unerfüllbaren
Wünschen beherrscht ist und wir alle sterben müssen, so könnten wir einsehen, auf
welch eklatante Weise unsere Lebensqualität unter dem gefühlten Wert liegt. Ein
psychologisches Testverfahren zur Ermittlung des Lebenswertes der eigenen
Biografie lautet: Vor die Wahl gestellt – würdest Du alles noch einmal von vorn
erleben und wiedergeboren werden wollen? Eines solchen Testverfahrens zur
Untermauerung seiner Überzeugungen bedient sich Benatar freilich nicht. Seine stets
lehrreiche Reflektiertheit in Fragen der Selbstidentität mag sie nicht zugelassen
haben.
Zu seiner eigenen Version der ethischen Existenz-Asymmetrie gelangt Benatar,
indem er Leid und Glück zunächst unter dem Gesichtspunkt ihres Gegebenseins
betrachtet, um sie dann unter dem Gesichtspunkt des Nichtgegebenseins zu
betrachten. Von einer Symmetrie von Leid und Glück könne nur dann die Rede sein,
wenn man sie unter dem Gesichtspunkt ihres Gegebenseins betrachtet. Hier gelte:
(1) Das Gegebensein von Leid ist schlecht.
(2) Das Gegebensein von Glück ist gut.
Anders stehen die Dinge laut Benatar, wenn wir Leid und Glück unter dem
Gesichtspunkt ihrer Abwesenheit betrachten. Hier gelte:
(3) Das Nichtgegebensein von Leid ist gut (und zwar auch dann gut, wenn
niemand da ist, für den dies gut ist).
(4) Das Nichtgegebensein von Glück ist nicht schlecht (außer es ist jemand da,
der dieses Glücks beraubt wird).
Leid, so können wir Benatar hier resümieren, wiegt ethisch schwerer als Glück. Denn
fehlendes Leid sei als Positivum zu verbuchen, während fehlendes Glück nicht als
Negativum zu veranschlagen sei. Mit Fug und Recht darf man (3) in Frage stellen,
wonach ein Zustand auch dann gut wäre, wenn niemand existierte, der sich dieses
Zustands erfreuen könnte. Fehlendes Leid macht die Welt laut Benatar zu einer
guten Welt. Fehlendes Glück hingegen mache die Welt nicht zu einer schlechten.
Allerdings fragt es sich, wie man eine Welt, in der es weder Leid noch Glück gibt,
moralisch bewerten soll und ob ethische Kategorien auf eine solche Welt überhaupt
Anwendung finden können. Soll eine Welt mit ethischen Kategorien beurteilt werden,
so muss es in ihr zumindest empfindende Wesen (Tiere), wenn nicht gar
handlungsfähige Subjekte (Personen) geben. Eine Welt, in der weder Personen
vorkommen, die Böses oder Gutes tun oder erfahren könnten, noch Tiere, die Glück
oder Leid erführen, ist nicht gut, sondern (anders als Benatar meint) ethisch gesehen
neutral.
Eine für weite Teile neuerer angelsächsischer Philosophie typische Tugend besteht
darin, sich das Philosophieren so schwer wie nur irgend möglich zu machen. Auch
Benatar befleißigt sich dieser Tugend. Er konfrontiert sich selbst mit den stärksten
Gegenargumenten, die ihm zu Gebote stehen:
1. Soll jemand durch einen Vorgang einen Schaden erfahren, so muss der
Betreffende als Konsequenz dieses Vorgangs schlechter dastehen als zuvor.
2. Die Schlechter-als-zuvor-Beziehung ist eine Beziehung zwischen zwei Zuständen.
3. Soll Person P in einem bestimmten Zustand Alpha (wie dem der Existenz)
schlechter dastehen als in einem anderen Zustand (Zustand Beta), mit dem Zustand
Alpha verglichen wird, so muss Zustand Beta einer solcher Zustand sein, in dem
Person P weniger schlecht (oder besser) dasteht.
4. Doch ist Nichtexistenz kein Kandidat für Zustand Beta, da Nichtexistenz kein
Zustand ist, in dem sich jemand befinden könnte. Demnach kann Existenz nicht mit
Nichtexistenz verglichen werden.
5. Folglich kann der Existenzbeginn von jemandem nicht schlechter sein als niemals
zu existieren.
6. Infolgedessen kann der Existenzbeginn kein Schaden sein (vgl. Benatar, S. 20).
Diesem Argument begegnet Benatar mit einer Position, der zufolge jemandem sehr
wohl geschadet werden könne, obwohl niemand da ist, der in einen Zustand gerät,
der schlechter wäre, als ein vorheriger Zustand. Eine solche Position muss Benatar
zu begründen suchen, da Nichtexistenz kein Zustand lebender Wesen ist, von dem
aus sie in den schlechteren Zustand der Existenz übergehen könnten. Benatar
verneint,
dass jemandem nur dann durch einen Vorgang geschadet werden kann, wenn
der Betreffende durch diesen Vorgang schlechter gestellt wird. Jemandem
werde bereits dann durch einen Vorgang Schaden zugefügt, wenn dieser
Vorgang für die betreffende Person schlecht ist und die Alternative nicht
schlecht gewesen wäre. Bei dieser Sicht der Dinge sei der Existenzbeginn ein
Schaden. (Vgl. Benatar, S. 21)
Was Benatar zu übersehen scheint: Die Alternative, an die er appelliert, mag „nicht
schlecht" sein; aber es ist niemand da, für den sie „nicht schlecht" wäre. Benatar
vergleicht Daseinslosigkeit mit Dasein. Vielleicht wären Benatars diesbezügliche
Ausführungen nachvollziehbarer, hätte er formuliert: Es ist schlecht, leidende
Menschen hervorzubringen; alle Menschen leiden; Leid ist durch Glück nicht
kompensierbar; also ist es stets geboten, keine weiteren Menschen hervorzubringen.
Doch so argumentiert Benatar nicht. Er zieht es vor, von der „Schadenszufügung
durch Hervorbringung" aus zu argumentieren.
Entsprechend missverständlich ist der Untertitel des Buches: „The Harm of Coming
into Existence". Unterstellt er doch, wir seien bereits da, bevor wir in Existenz treten.
Der Untertitel insinuiert, uns werde dadurch geschadet, dass wir zu existieren
beginnen und man hätte uns besser im Status der Nichtexistenz belassen. Freilich
kann Benatar ein solches Missverständnis überzeugend ausräumen: Er führt aus,
dass uns der Schaden nicht in dem Moment zugefügt wird, in dem wir zu existieren
beginnen, sondern der Schaden entstehe erst dadurch, wenn auch unweigerlich,
dass jedes Leben mehr Leid als Glück mit sich bringe. Wobei Benatar festlegt, dass
Leid von einer bestimmten Intensität an durch kein Glück mehr kompensiert werden
könne.
Es ist besser, keine Nachkommen zu haben, damit die Menschheit ausstirbt. – Von
diesem Ergebnis her gesehen, könnte man Benatars Buch als eine Antwort der
Philosophie auf Auschwitz und andere gewesene und zu befürchtende künftige
Massenvernichtungen von Menschen durch Menschen betrachten, für die der Name
Auschwitz als historisches Faktum und als Symbol einsteht (für den Versuch einer
Antwort siehe ferner Akerma 2000). Dem steht entgegen, dass Benatar Auschwitz
nicht bedenkt. Wir stehen vor einer merkwürdigen Konstellation. Adorno, der im
Schatten von Auschwitz philosophierte, revidierte sein ursprüngliches Diktum, nach
Auschwitz ließen sich keine Gedichte mehr schreiben, und formulierte: „Das
perennierende Leiden hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen;
darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht mehr sich
schreiben. Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch
sich leben lasse..." „Hitler hat den Menschen im Stande ihrer Unfreiheit einen neuen
kategorischen Imperativ aufgezwungen: ihr Denken und Handeln so einzurichten,
dass Auschwitz nicht sich wiederhole, nichts Ähnliches geschehe." (Adorno, S. 355
und S. 358) Was Adorno nicht bedenkt oder zumindest nicht ausspricht: Die
Unwiederholbarkeit von Auschwitz ist nur zu gewährleisten, wenn das Nachdenken
über Auschwitz nicht zum Handeln, sondern zu einem Unterlassen, nämlich zu
nataler Enthaltsamkeit, führt. Während Adorno im Schatten von Auschwitz und in
Ansehung unausdenkbaren Leidens denkt, ohne dass er zum Antinatalismus
gelangte, hält Benatar bereits jeden durchschnittlichen Lebenslauf für so schlecht,
dass er das Gebot formuliert, keine Menschen mehr hervorzubringen.
In dem Maße, in dem Benatars philosophischer Schluss und sein moralisches Gebot
der natalen Enthaltsamkeit nachvollziehbar sind, offenbart sich eine Schwäche im
Denken Adornos: Adorno dachte nicht radikal, nicht unvoreingenommen genug.
Gemessen an Benatar scheint Adorno geradewegs ein von historischer
Überlieferung und Intuitionen geleiteter bürgerlicher Geist. Freilich darf spekuliert
werden: Wäre sie denn niedergeschrieben worden, hätte das Gebot der
Nachkommenlosigkeit im Zentrum der Ethik Adornos stehen können. Plausibel klingt
dies nicht.
Benatars Buch ist ein eminent philosophisches Werk. Jedenfalls dann, wenn die
Aufgabe der Philosophie nicht darin besteht, unsere Intuitionen (das, was wir
eigentlich immer schon wussten und für richtig hielten, weil es Teil unserer Erziehung
und Umwelt ist) zu systematisieren, sondern zu hinterfragen, ob unsere Intuitionen
gerechtfertigt werden können. Auf diese Weise eminent philosophisch ist Benatar
auch in Kapitel 4 („Kinder haben: Die Anti-Geburts-Position"), dort, wo er einen
Philosophen wie Kant gegen den Strich liest. So wird nach Benatar dem Geiste eines
berühmten Theorems Kants – dem zufolge man einen Menschen niemals bloß als
Mittel ansehen dürfe, sondern immer auch als Zweck anzusehen habe – immer dann
eklatant widersprochen, wenn ein neuer Mensch gezeugt wird. Denn man könne
einen Menschen nicht um seiner selbst willen hervorbringen. Man könne dies
deshalb nicht tun, weil niemand da ist, dem man das vermeintliche Gut der Existenz
zukommen lassen könnte (vgl. Benatar, S. 129f).
Auf gewohnte Denkbahnen begibt sich Benatar erst im 5. Kapitel („Abtreibung: Die
Pro-Todes-Position"). Nachdem er sich bemüht hat zu zeigen, es wäre besser
gewesen, hätte die eigene Existenz niemals begonnen, behandelt er hier die
zugehörige Frage, wann unsere Existenz denn eigentlich beginnt. Seine Antwort ist
zum einen traditionell und zum anderen unplausibel: „Jeder von uns war einst eine
Zygote", sagt Benatar. Als man eine Zygote war, so führt er weiter aus, sei die eigene
Existenz jedoch in moralischer Hinsicht noch nicht relevant gewesen. Benatar
unterscheidet unsere Existenz also nach verschiedenen Hinsichten. Dem kann man
entgegenhalten, dass dem Faktum der Existenz ein Entweder-Oder eignet. Entweder
ich existiere, oder ich existiere nicht. Entweder ich werde getötet und höre
irreversibel auf zu existieren oder nicht. Mit dem Bewusstsein des Fötus beginnt für
Benatar eine moralisch relevante Existenz. Er verortet den Zeitpunkt unplausibel
spät: in die 28. bis 30. Woche. Demnach hätte ich bereits als Zygote getötet werden
können, aber erst im Alter von 28-30 Wochen wäre meine Tötung moralisch relevant
gewesen.
Benatars Auffassung, jeder von uns sei einst eine Zygote gewesen, entspricht die
Überzeugung, jeder von uns sei mit seinem Organismus identisch, sei essentiell der
eigene funktionierende Organismus. Plausibler, aber von Benatar nicht reflektiert,
scheint hier die Auffassung, wonach jeder von uns das vom eigenen Gehirn
realisierte Bewusstsein ist. Denn den eigenen Organismus kann man, zumindest im
Gedankenexperiment, gegen einen anderen Organismus tauschen. Das vom
eigenen Gehirn unterstützte Bewusstsein hingegen kann man nicht gegen das von
einem anderen Gehirn hervorgebrachte Bewusstsein tauschen, ohne dass man für
immer aufhören würde zu existieren: Einen Körpertausch können wir theoretisch
überstehen, einen Bewusstseinstausch nicht einmal in der Theorie (vgl. Akerma
2006).
Fernab von allen begangenen Denkpfaden liegt der Schluss, den Benatar am Ende
des 5. Kapitels zieht. Er kombiniert das Ergebnis der ersten Kapitel („Dadurch, dass
wir zu existieren beginnen, wird uns Schaden zugefügt") mit dem hauptsächlichen
Ergebnis des 5. Kapitels („In moralisch relevanter Hinsicht beginnen wir erst um die
29. Schwangerschaftswoche zu existieren") und folgert: In den ersten
Schwangerschaftsmonaten sind es nicht die Schwangerschaftsabbrüche, die einer
Rechtfertigung bedürfen, sondern vielmehr die nicht abgebrochenen
Schwangerschaften. Nicht unser Tun, vielmehr unser Unterlassen sei hier
unverantwortlich. „Denn ein solcher Fehler führt dazu, dass jemand den Schaden des
Existenzbeginns erleiden wird" (Benatar, S. 161).
Im sechsten und letzten Kapitel „Bevölkerung und Aussterben" macht Benatar sich
Gedanken unter anderem über den richtigen Weg, der einzuschlagen wäre, damit
unser Verschwinden von der Erde möglichst leidlos erfolgt. Und er scheut nicht davor
zurück, das „Schicksal der letzten Leute" (Benatar, S. 191) zu bedenken. Am Ende
seines Buches kann Benatar das allmähliche Verschwinden der Menschen von der
Erde als ein optimistisches Szenario plausibel machen: Der Zustand der Welt ist jetzt
schlecht, aber er wird besser, je weniger leidende Menschen es gibt. War bislang nur
vom Menschen die Rede, soll abschließend nicht unerwähnt bleiben, dass der
Vegetarier Benatar sein ganzes Werk hindurch auch die leidende Kreatur im Blick
hat: „Auch wenn das Ende der Menschheit das Leiden erheblich vermindern würde,
verschwände doch nicht jegliches Leid. Die verbleibenden fühlenden Lebewesen
würden weiterhin leiden..." (Benatar, S. 224) Doch solange wir noch da sind, sollten
wir damit aufhören, Tiere, denen nichts als ein elendes Leben bevorstünde, zum
Zwecke ihres Verspeistwerdens und anderweitiger Vernutzung zu züchten.
In Fortführung eines Diktums Tolstois ist zu mutmaßen, ob nicht eine vegetarisch
gewordene Menschheit, die darauf verzichtete, Milliarden fühlender Tiere
hervorgehen zu lassen, um sie zu schlachten, die Vorbedingung für die Umsetzung
der Benatarischen Moralphilosophie wäre. Seine Ethik ist vollendbar.
[Übersetzungen aus dem Englischen vom Rezensenten]
Literatur:
Adorno, Theodor W.
-Negative Dialektik, Ff/M 1966
Akerma, Karim
-Lebensende und Lebensbeginn. Philosophische Implikationen und mentalistische
Begründung des Hirn-Todeskriteriums, Hamburg 2006
-Verebben der Menschheit? Neganthropie und Anthropodizee, Freiburg 2000
-The End and the Permanence of Mankind in Karl Jaspers's Philosophy, in: Jahrbuch der
Österreichischen Karl-Jaspers-Gesellschaft 1999, S. 83-103
Govier, Trudy
What should we do about future people? In: Jan Narveson (Hg.): Moral Issues, Oxford
University Press 1983, S. 399-413
McMahan, Jeff
Nuclear Deterrence and Future Generations, in: Avner, Cohen/Steven, Lee (Hg.): Nuclear
Weapons and the Future of Humanity, Totowa-New Jersey 1986, S. 319-340
Milton, John
Das verlorene Paradies. Werke. Englisch-Deutsch, Zweitausendeins, Ff/M 2008
Narveson, Jan
Utilitarianism and New Generations, in: Mind 76 (1967), S. 62-72
Nozick, Robert
The Examined Life. Philosophical Meditations, New York 1989
Tolstoy, Leo
The Immorality of Carnivorism, in: Walters, Kerry S./Portmess, Lisa (Hg.): Ethical
Vegetarianism. From Pythagoras to Peter Singer, State University of New York Press 1999,
S. 97-105
Vetter, Hermann
-The Production of Children as a Problem of Utilitarian Ethics, in: Inquiry 12/1969, s. 445-
447
-Utilitarianism and New Generations, in: Mind 80 (1971), S. 301-302